Müssen wir uns also von dem Denken verabschieden, dass nur unberührte Natur die wahre und gute Natur ist? Auch im Hinblick auf die Artenvielfalt?
Das Umdenken findet bereits statt. Es gibt schon lange die Erkenntnis, dass eine wirklich unberührte Natur eigentlich nirgendwo mehr existiert. Jeder weiß, dass wir in Deutschland keine Urwälder haben. Und der menschengemachte Klimawandel betrifft alle ökologischen Systeme. Das Ziel muss sein, sich vom Gegensatz künstlich versus natürlich zu verabschieden. Es gibt alle möglichen Zustände zwischen diesen Polen. Für den Artenschutz bedeutet dies, zunächst das Ziel auszuloten. Das stellt sich in der Stadt anders dar als im Naturschutzgebiet. Wir brauchen Begriffe, die helfen, die Übergänge zwischen natürlichen und menschengemachten Zuständen in der Natur zu beschreiben.
Kann Natur, in die Menschen oder invasive Arten eingreifen, genauso biodivers sein wie die möglichst unberührte?
Ja, ein tolles Beispiel sind in Mitteleuropa extensiv bewirtschaftete Wiesen. Das sind Hotspots der Biodiversität. Sie sind nur deshalb artenreich, weil sie schon immer gemanagt worden sind. Das zeigt, dass ein bedachtes Management ein hohes Level an Biodiversität herstellen kann. Ein anderes Beispiel ist die gezielte Renaturierung. Indem man Brachen nicht nur liegen lässt, sondern gezielt eingreift, kann man zu einer hohen Biodiversität kommen.
Neuartig sind ja nicht nur die Ökosysteme, die sie untersuchen, neuartig ist auch der Ansatz. Welche Forschungsbereiche kommen da zusammen?
Es ist unheimlich spannend, die Entwicklung der ökologischen Neuartigkeiten fächerübergreifend zu betrachten, von der Philosophie über die Umweltethik, Stadtplanung und Ökologie bis zu den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften. Dieser interdisziplinäre Ansatz ermöglicht es uns, mit einer neuen Brille auf diese Zusammenhänge zu schauen. Wie beeinflusst beispielsweise die Einkommenssituation der Menschen die Art der Grünflächen in ihrer Umgebung, wie beeinflussen diese wiederum die Gesundheit der Menschen, die da leben. Es ist eine sehr komplexe Betrachtung, die weit über die ökologische hinausgeht.
Zumal wir alle auch noch persönliche Vorstellungen von der „richtigen“ Natur haben, die sich auch aus kulturellen und individuellen Überzeugungen speisen.
Ja, deshalb gehören Philosophie und Umweltethik unbedingt dazu, ebenso wie die Psychologie. Was verstehen wir unter Natur? Wie können wir das Zusammenspiel von Mensch und Natur neu beschreiben? Ein Beispiel ist die Frage, wie stark ich im Zuge des Klimawandels in die Natur eingreifen soll. Manche Pflanzen und Tiere verlieren durch die Erderwärmung ihre Habitate. Dürfen wir Ökosysteme kreieren, die dem Klimawandel trotzen? Sollen wir das? Wollen wir das?
Wir brauchen Ansätze, die uns begreifen lassen, dass alles, was wir als Natur betrachten, vom Menschen gemanagt wird. Wir müssen neue konzeptionelle Rahmen schaffen. Noch fehlt es dazu an Interaktion zwischen den Natur-, Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Da gibt es noch viel zu tun.