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„Wir müssen uns vom Gegensatz zwischen natürlicher und vom Menschen beeinflusster Natur verabschieden“

Ein Interview mit der Expertin für Biodiversität und Ökologie Dr. Tina Heger

Der Mensch verändert im Anthropozän die Natur und damit auch deren Biodiversität. Sie haben in diesem Kontext mit Kolleg*innen den Begriff der „ecological novelty“, der  „ökologischen Neuheit“ entwickelt. Was verbirgt sich dahinter? 

Unsere Umwelt ist in vielerlei Hinsicht vom Menschen beeinflusst. Als Folge zahlreicher Veränderungen entstehen neuartige Organismengemeinschaften und Ökosysteme. Das war aus wissenschaftlicher Perspektive der Grund, den Begriff der ökologischen Neuartigkeit einzuführen. Stark veränderte Umweltbedingungen sind zum einen aus ökologischer Sicht, also für die Organismen, neuartig. Aber sie sind es auch für die Betrachter*innen, die Menschen in der Stadt und auf dem Land. Auch sie spielen in unserem Ansatz eine Rolle.

Wo zeigen sich diese ökologischen Neuartigkeiten?

Ein Paradebeispiel für neuartige Ökosysteme sind Stadtbrachen auf stark verändertem Boden. Dort siedeln sich ganz neue, nicht heimische, gebietsfremde Arten an und bilden zusammen mit den heimischen Arten ein neuartiges Ökosystem.

Es entsteht also auch eine neuartige Biodiversität. Ist die nicht wünschenswert? Gemeinhin werden invasive Arten ja eher kritisch betrachtet.

Dazu gibt es extrem unterschiedliche Meinungen. Die eine Seite ist überzeugt, dass invasive Arten durchweg nicht wünschenswert sind und etwas gegen sie unternommen werden sollte. Vertreter*innen dieser Seite heißen diese neuen Ökosysteme nicht gut. Doch es gibt auch die Gegenseite, die sie als Chance für die Biodiversität sieht.

„Neue Organismen und Ökosysteme können eine Bereicherung sein.“

Wie sehen Sie das? 

Ich vertrete eine Mittellinie. Neue Organismen und Ökosysteme können eine Bereicherung sein, wie auf den erwähnten Brachen. In Naturschutzgebieten, in denen ich lokale Populationen vor dem Aussterben schützen will, sind invasive Arten jedoch unerwünscht. Es hängt also sehr vom Kontext ab. In der Stadt sollte man gar nicht anfangen, jede invasive Art zu bekämpfen. Das wäre Ressourcenverschwendung. Es kommen ständig neue hinzu. In solchen Fällen sollte man unbedingt die alte Denkweise ablegen, dass alles Invasive schlecht ist und vielmehr drauf achten, was diese invasiven Arten Gutes mit sich bringen, zum Beispiel für die Biodiversität.

Was wären denn ihr Nutzen?

Viele gebietsfremde Pflanzen blühen zum Beispiel länger und bieten den Bestäubern länger Futter und Ressourcen. Es gibt viele andere Beispiele, wie invasive Arten nützlich sein können für die Ökosysteme, für Prozesse wie die Luftreinhaltung und den Wasserhaushalt.

Welche sind das?

Die Goldrute ist ein Beispiel. Es gibt hierzulande zwei Arten, beide kommen aus Nordamerika und wurden ursprünglich als Gartenpflanze nach Deutschland eingeführt. Sie ist zudem auch hübsch. Das ist ja auch ein Aspekt, auf den es in der Stadt ankommt. Wir sollten nicht ausschließlich in ökologischen Kontexten denken. Ein zweites Beispiel ist der rasant wachsende japanische Staudenknöterich, der lange als Bedrohung der heimischen Vegetation galt. Mittlerweile wissen wir, dass heimische Vogelarten ihn als Bruthabitat entdeckt haben. Manchmal brauchen diese Prozesse eine Weile. Man muss ihnen Zeit geben.

Es kommt also auch auf die Art an?

Ja, ich würde nie sagen, dass alle invasiven Arten gut sind. Aber im Umgang mit jenen, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wieder loswerden oder sie auch Vorzüge haben, sollten wir versuchen, ein gutes Gleichgewicht zu finden.

„Das Ziel muss sein, sich vom Gegensatz ‚künstlich versus natürlich‘ zu verabschieden.“

Müssen wir uns also von dem Denken verabschieden, dass nur unberührte Natur die wahre und gute Natur ist? Auch im Hinblick auf die Artenvielfalt? 

Das Umdenken findet bereits statt. Es gibt schon lange die Erkenntnis, dass eine wirklich unberührte Natur eigentlich nirgendwo mehr existiert. Jeder weiß, dass wir in Deutschland keine Urwälder haben. Und der menschengemachte Klimawandel betrifft alle ökologischen Systeme. Das Ziel muss sein, sich vom Gegensatz künstlich versus natürlich zu verabschieden. Es gibt alle möglichen Zustände zwischen diesen Polen. Für den Artenschutz bedeutet dies, zunächst das Ziel auszuloten. Das stellt sich in der Stadt anders dar als im Naturschutzgebiet. Wir brauchen Begriffe, die helfen, die Übergänge zwischen natürlichen und menschengemachten Zuständen in der Natur zu beschreiben.

Kann Natur, in die Menschen oder invasive Arten eingreifen, genauso biodivers sein wie die möglichst unberührte?

Ja, ein tolles Beispiel sind in Mitteleuropa extensiv bewirtschaftete Wiesen. Das sind Hotspots der Biodiversität. Sie sind nur deshalb artenreich, weil sie schon immer gemanagt worden sind. Das zeigt, dass ein bedachtes Management ein hohes Level an Biodiversität herstellen kann. Ein anderes Beispiel ist die gezielte Renaturierung. Indem man Brachen nicht nur liegen lässt, sondern gezielt eingreift, kann man zu einer hohen Biodiversität kommen.

Neuartig sind ja nicht nur die Ökosysteme, die sie untersuchen, neuartig ist auch der Ansatz. Welche Forschungsbereiche kommen da zusammen? 

Es ist unheimlich spannend, die Entwicklung der ökologischen Neuartigkeiten fächerübergreifend zu betrachten, von der Philosophie über die Umweltethik, Stadtplanung und Ökologie bis zu den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften. Dieser interdisziplinäre Ansatz ermöglicht es uns, mit einer neuen Brille auf diese Zusammenhänge zu schauen. Wie beeinflusst beispielsweise die Einkommenssituation der Menschen die Art der Grünflächen in ihrer Umgebung, wie beeinflussen diese wiederum die Gesundheit der Menschen, die da leben. Es ist eine sehr komplexe Betrachtung, die weit über die ökologische hinausgeht.

Zumal wir alle auch noch persönliche Vorstellungen von der „richtigen“ Natur haben, die sich auch aus kulturellen und individuellen Überzeugungen speisen. 

Ja, deshalb gehören Philosophie und Umweltethik unbedingt dazu, ebenso wie die Psychologie. Was verstehen wir unter Natur? Wie können wir das Zusammenspiel von Mensch und Natur neu beschreiben? Ein Beispiel ist die Frage, wie stark ich im Zuge des Klimawandels in die Natur eingreifen soll. Manche Pflanzen und Tiere verlieren durch die Erderwärmung ihre Habitate. Dürfen wir Ökosysteme kreieren, die dem Klimawandel trotzen? Sollen wir das? Wollen wir das?

Wir brauchen Ansätze, die uns begreifen lassen, dass alles, was wir als Natur betrachten, vom Menschen gemanagt wird. Wir müssen neue konzeptionelle Rahmen schaffen. Noch fehlt es dazu an Interaktion zwischen den Natur-, Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Da gibt es noch viel zu tun.

„Ich könnte Salamander genetisch so verändern, dass sie immun gegen einen tödlichen Pilz sind, der derzeit die Amphibien bedroht, und sie in die Natur ausbringen. Aber wäre das dann noch die Natur, die wir bewahren wollen? Dürfen wir eingreifen?“

Deshalb setzt das Konzept der Ökologischen Neuheiten auch auf eine stärkere Zusammenarbeit der Forschungsgebiete. Wie könnte die konkret aussehen? 

Das ist sehr komplex. Vor kurzem habe ich einen Workshop zum Thema „Novel natures“ organisiert, zu dem Vertreter*innen aus Ökologie, Philosophie, Sozialwissenschaft, Politologie, NGOs und dem Naturschutz zusammenkamen. Das war extrem spannend. Wir haben unter anderem über sogenannte Gendrives gesprochen: Ich könnte Salamander genetisch so verändern, dass sie immun gegen einen tödlichen Pilz sind, der derzeit die Amphibien bedroht, und sie in die Natur ausbringen. Deren veränderte Gene würde sich in der Population ausbreiten und sie schützen. Aber wäre das dann noch die Natur, die wir bewahren wollen? Dürfen wir eingreifen? Da ist sie wieder, die Frage: Was betrachten wir als Natur? Unser Ziel ist es, solche Kontexte und Debatten fächerübergreifend zu verstetigen.

 

Zur Person

PD Dr. Tina Heger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe „Ecological Novelty“ am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Sie ist Expertin für Biodiversität und Ökologie.

Foto: privat

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