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„Ziele sind wichtig, sie treiben uns an”

Ein Interview mit dem Agrarbiologen Prof. Dr. Josef Settele

Sie sind seit fast einem Jahrzehnt beim Weltbiodiversitätsrat IPBES tätig. Was empfiehlt der Rat, um Biodiversität zu schützen?

Im Jahr 2019 haben wir ein globales Assessment der biologischen Vielfalt und Ökosystemleistungen veröffentlicht. In dem Bericht haben wir versucht, möglichst kurz die wichtigsten Punkte des transformativen Wandels für globale Nachhaltigkeit aufzuzeigen. Wir wollen damit international grundlegende Veränderungen bezüglich unserer Werte und unseres Verhaltens gegenüber der Biodiversität vorantreiben. Dafür haben wir sogenannte Interventionspunkte definiert. Bei diesen können Akteur*innen wie politische Entscheidungsträger*innen ansetzen und sich orientieren, um die Situation der Natur zukünftig zu verbessern. 

Welche Interventionspunkte sind das?

Wir Menschen brauchen die Natur zum Überleben. Sie beeinflusst unser Wohlbefinden. Das bei Maßnahmen zum Biodiversitätsschutz mit einzubeziehen, ist ein zentraler Interventionspunkt. Ein weiterer Punkt ist die Förderung nachhaltiger Wertvorstellungen und Aktionen: Maßnahmen, die dafür sorgen, dass sich die Gesellschaft eigenständig dafür verantwortlich fühlt, nachhaltiger zu handeln. Das hängt sehr stark damit zusammen, wie wir Ungleichheit bekämpfen können. Wenn wir die Natur schützen wollen, sollten wir Gerechtigkeit und Inklusion immer mitdenken. Nur so kann jeder an der Natur teilhaben und sich das Wohlbefinden insgesamt verbessern. Außerdem müssen die Folgekosten berücksichtigt werden, die vor allem aus dem Handeln in Verbindung mit Landnutzungssystemen entstehen. Deutlich mehr als die Hälfte aller Umweltschäden, für die die EU verantwortlich ist, wirken sich nicht innerhalb der EU aus. Europa importiert etwa Soja für die Tierhaltung. Das sorgt dafür, dass in Südamerika große Flächen von Regenwald abgeholzt werden. Außerdem sollten wir mehr in nachhaltige und verantwortungsvolle Innovationen investieren, den Gesamtkonsum und die Abfälle reduzieren und Bildung, Generierung und Vermittlung von Wissen fördern. Viele dieser Punkte haben auf den ersten Blick nur indirekt mit Biodiversität zu tun. Sie hängen mit unseren Wertvorstellungen und unserem Verhalten gegenüber der Natur zusammen und dienen als Grundlage, um überhaupt Erfolg beim Biodiversitätsschutz haben zu können.

„Viele denken bei Naturschutzgebieten an Totalreservate ohne jeglichen menschlichen Einfluss. … Zentral ist, dass ein nachhaltiges Management und keine exzessive Nutzung auf diesen geschützten Gebieten stattfindet.”

Was sollten wir in Deutschland zum Schutz von Biodiversität tun? 

Ein Bereich, den ich dabei gerne herausstelle, ist die Landnutzung. Ein Ziel des neuen Rahmenprogrammes zum Schutz der biologischen Vielfalt: mindestens 30 Prozent Land- und Meeresgebiete als Schutzgebiete auszuweisen. Viele denken bei Naturschutzgebieten an Totalreservate ohne jeglichen menschlichen Einfluss. In Deutschland haben wir sehr wenige solcher Flächen – nur etwa 0,6 Prozent. Die meisten Gebiete mit einer hohen Artenvielfalt sind durch menschliche Nutzung entstanden, wie Wiesen und Weiden. Die Arten haben sich über Jahre an den menschlichen Einfluss angepasst. Dies sollte in Schutzgebieten berücksichtigt werden. Ein nachhaltiges Management kann wichtig für den Erhalt einiger Arten sein. Die Bestäuber machen das Zusammenspiel besonders deutlich: Wir benötigen eine große Artenvielfalt, vor allem an bestäubenden Insekten, um verschiedene Obstsorten zu produzieren, die uns wiederum als Nahrung dienen. Deshalb müssen wir Naturschutz und nachhaltige Landwirtschaft zusammendenken. Das bedeutet für das 30-Prozent-Ziel: Die Gebiete, die unter Schutz gestellt werden, gehen für die Landwirtschaft nicht zwangsläufig verloren. Zentral ist, dass ein nachhaltiges Management und keine exzessive Nutzung auf diesen geschützten Gebieten stattfindet, wie das bei intensiver Tierhaltung häufig der Fall ist. 

Bei der 10. Biodiversitätskonferenz im Jahr 2010 wurden 20 Kernziele zum weltweiten Biodiversitätsschutz verabschiedet, die sogenannten Aichi-Ziele. Diese sollten bis 2020 erreicht werden. In einem Bericht der UN wurde evaluiert, dass kein Ziel vollständig erreicht wurde. Woran liegt das?

Die Länder haben die Ziele nicht so erreicht wie angestrebt. Jedoch gibt es einige Bereiche, in denen sie trotzdem große Fortschritte gemacht haben. Viele Länder haben Konzepte für invasive Arten entwickelt. Bei der Ausweisung von Schutzgebieten gibt es auch Fortschritte: Mindestens 17 Prozent der Landflächen sollten geschützt werden, bis 2020 gab es weltweit bereits 15 Prozent Schutzgebiete an Land. Jedoch sind bisher viele dieser Gebiete nur auf dem Papier ausgewiesen und geplant. Das konkret auch umzusetzen, hat sich als aufwendiger herausgestellt: Einige der Schutzgebiete müssen speziell genutzt und verwaltet werden, um die Biodiversität zu erhalten. Weltweit sind wir hier, wie auch bei vielen der anderen Aichi-Ziele, dennoch auf einem guten Weg. Dass jedoch keines der Ziele vollkommen bis zur Frist 2020 erreicht wurde, ist sehr bedauerlich.

„Wir haben momentan wahrscheinlich noch viel höhere Aussterberaten als uns bekannt ist.”

Statement zur Weltbiodiversitätskonferenz COP 15

Ich selbst war vom 6.-12. Dez. 2022 in Montreal um bei einigen sog. „side events“ beispielsweise nochmals auf die Kernaussagen des Globalen Berichtes des Weltbiodiversitätsrates IPBES aus 2019 hinzuweisen 1 – ein Bericht den ich gemeinsam mit Sandra Diaz und Eduardo Brondizio als Co-Chairs betreuen durfte. Auch zum Thema des Zusammen-Denkens von Klimawandel und Biodiversitätskrise konnte ich mich z.B. auf einem Panel des WWF einbringen 2 , sowie zum Thema „food systems“ wo ich bei einem kurzen Impulsreferat einen Schwerpunkt auf Agrarökologie legte. Zumindest schien dieser Einsatz nicht vergeblich gewesen zu sein – könnte er doch auch dazu beigetragen haben (aber wer weiß das schon bei solch einem komplexen Verhandlungsprozess), dass diese Themen in der finalen Fassung des Globalen Biodiversity Framework (GBF) erhalten blieben bzw. ihren Niederschlag fanden. Besonders erfreut bin ich darüber, dass die Arbeit des Globalen Assessments zentral hervorgehoben wird, und das GBF eine Antwort versucht zu sein auf dessen Ergebnisse, wodurch der Bericht auch als Referenz für detaillierte Informationen zur Umsetzung dienen kann.
Andere Ergebnisse, die ich hervorheben möchte betreffen das viel diskutierte 30×30-Ziel, das seine Verankerung gefunden hat und in Kombination mit der Berücksichtigung lokaler Bevölkerungen bei deren Gestaltung und Management einen guten Schritt in eine richtige Richtung darstellt. Auch insgesamt ist die stärkere Berücksichtigung der Menschen im Prozess des Erhalts der Natur wichtig.
Auch ein Finanzierungsmechanismus wurde zumindest eingeleitet – auch wenn ein Betrag von 20 Milliarden pro Jahr erst mal noch als sehr gering einzustufen ist – da muss mittelfristig mehr Ambition des globalen Nordens eingefordert werden, was aber wohl perspektivisch angegangen werden soll. Leider sind Ziele zum Schutz der Biodiversität nur bis 2050 vereinbart, ohne Zwischenschritte – entgegen dem ursprünglichen Text, wo noch für 2030 Ziele vorgeschlagen waren.
Zur Umsetzung der Ziele werden wir immer auch sehr auf die Nationalstaaten angewiesen sein – und mit einer Notwendigkeit der Freiheit der nationalen Ausgestaltung geht auch das Risiko einher, dass das nicht ernst genug genommen wird. Der Finanzierungsmechanismus sieht aber z.B. auch vor, dass man die Fortschritte verfolgt – und das wird sich sicherlich auch darauf auswirken, wie stark das Engagement in Zukunft ausfällt. Die COP hat für mich durchaus Züge eines Paris-Momentes für die Biodiversität angenommen – solange dieses Moment nicht auch bedeutet, dass wir dann bei der Umsetzung genauso zaghaft voranschreiten wie bei der Bewältigung der Klimakrise.

Prof. Dr. Josef Settele, Leiter des Departments für Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ

Foto: André Künzelmann / UFZ

Warum ist es so herausfordernd, Maßnahmen zum Schutz von Biodiversität umzusetzen?

Das Artensterben betrifft große Zeiträume: Als Orientierung, ob eine Art als ausgestorben gilt, wird mitunter ein Zeitraum von Jahrzehnten herangezogen. Die aktuellen Aussterberaten sind somit veraltete Zahlen und entsprechen nicht der gegenwärtigen Situation. Das liegt in der Methodik begründet, daran lässt sich nicht viel ändern. Wir haben momentan wahrscheinlich noch viel höhere Aussterberaten als uns bekannt ist. Gleichzeitig macht dieser Zeitverzögerungseffekt es schwierig zu verfolgen, ob Maßnahmen erfolgreich sind. Es dauert, bis Systeme entsprechend reagieren.

Die Zusammenhänge in der Biodiversität sind sehr komplex. Was birgt das für Schwierigkeiten?

Im Gegensatz zum Klimawandel sind in der Biodiversitätskrise Kipppunkte sehr schwer festzustellen. Darunter versteht man Punkte, an denen irreversible Schäden für die Biodiversität und Ökosysteme entstehen – beispielsweise, wenn Arten aussterben. Diese Kipppunkte stellt man häufig erst fest, wenn es bereits zu spät ist. Das hat große Auswirkungen auf einzelne Arten und Ökosysteme. Eine weitere Schwierigkeit ist, wie Maßnahmen für den Biodiversitätsschutz finanziert werden können. Das wird auch bei der UN-Biodiversitätskonferenz zentral sein. Es braucht ein globales Finanzierungssystem. Naturschutzgebiete brauchen ein entsprechendes Management durch Personal. Das kostet Geld. Und nicht zuletzt: Artenvielfalt kann auch bedrohen, indem große Tierherden beispielsweise Agrarflächen zerstören. Die lokale Bevölkerung muss von dem Erhalt der Arten leben können. Auch das sollte mitgedacht werden. Deshalb ist der Dialog mit den betroffenen Menschen so wichtig. Aber das kostet eben Geld und vor allem Zeit. 

Wie schätzen Sie die Zielsetzungen der 15. UN-Biodiversitätskonferenz ein, die im Dezember in Montreal stattfindet?

Das wird je nach Ziel unterschiedlich sein. Allgemein gehen die Ziele aber schon in die richtige Richtung. Sie sind sehr ambitioniert. Ich schätze, dass die Umsetzung voraussichtlich länger dauern wird, als man sich wünschen würde – wie bereits bei den Aichi-Zielen. Bei den bisherigen Zielen war es so, dass wir nur Teilziele erreicht haben. Ich vermute, dass dies auch bei den zukünftigen Zielen wieder der Fall sein wird. Dennoch sind Ziele wichtig – sie treiben uns an. Und diese Ziele in einem Konsensdokument festzuhalten, dass alle Regierungen unterzeichnen, ist eine wichtige Orientierung, um den Schutz von Biodiversität umzusetzen. Verschiedene zivilgesellschaftliche Akteur*innen können damit staatliche Handlungen einfordern und kontrollieren.

Was kommt Ihnen im öffentlichen und politischen Diskurs zu Biodiversität zu kurz?

Auf der höchsten politischen Ebene fehlt es immer noch an Engagement. Das sieht man daran, dass sich bei der UN-Biodiversitätskonferenz im Gegensatz zur gerade zu Ende gegangenen Klimakonferenz in Ägypten keine Staatschefs angemeldet haben. Das macht deutlich, dass Biodiversität noch nicht hoch genug auf der politischen Agenda steht. National sind wir aber schon auf einem guten Weg beim Biodiversitätsschutz. Das Thema Insekten ist mittlerweile etwa viel präsenter bei den Menschen in Deutschland. Allgemein haben viele in den letzten Jahren verstanden, dass Naturschutz wichtig ist, gerade auch für uns Menschen selbst.

 

Zur Person

Prof. Dr. Josef Settele ist Leiter des Departments für Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ. Er ist Agrarbiologe und Ökologe. Zudem ist er seit fast einem Jahrzehnt beim Weltbiodiversitätsrat IPBES als Experte tätig und Co-Vorsitzender des dort verfassten globalen Berichts zum ökologischen Zustand der Erde.

Foto: André Künzelmann / UFZ

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