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Brauchen wir einen Einstellungswandel?

Ein philosophischer und ethnologischer Blick auf unser Verhältnis zur Natur

Die Menschen in der industrialisierten Welt entfremden sich immer stärker von der Natur. So lässt es sich in zahlreichen Artikeln lesen. Auch Befragungen, wie der Jugendreport Natur, zeigen, dass die Distanz zur Natur bei Jugendlichen und Kindern wächst. Gleichzeitig schreitet ein massiver Biodiversitätsverlust voran und gesamtgesellschaftliche Bemühungen zum Artenschutz werden immer dringlicher. Wie können die nötigen Maßnahmen zum Schutz von etwas gelingen, dem wir uns scheinbar immer weniger verbunden fühlen?

„Grundlegend ist die Bedeutung von Natur als Gegenwelt zur Welt der Kultur und Technik: Von Natur als das, was sich selbst hervorbringt, im Unterschied zu dem, was von Menschen hervorgebracht wird.“

Dr. Thomas Kirchhoff, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft

Der Wert der Natur für den Menschen

In der Naturphilosophie gibt es zahlreiche Naturbegriffe. In unserer Gesellschaft dominiere der bedeutungslogische Naturbegriff, erklärt Dr. Thomas Kirchhoff, Naturphilosoph an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft: „Dieser beschreibt, welche Bedeutung wir Natur geben. Grundlegend ist dabei die Bedeutung von Natur als Gegenwelt zur Welt der Kultur und Technik: Von Natur als das, was sich selbst hervorbringt, im Unterschied zu dem, was von Menschen hervorgebracht wird.“

Dabei hat Natur unterschiedliche Werte für Menschen. Instrumentelle Werte bezeichnen die sogenannten produzierenden und regulierenden Ökosystemdienstleistungen, also die Natur etwa als Ressource zur Ernährung oder Rückhalteraum für Niederschläge. In unserer Gesellschaft seien aber auch die nicht-instrumentellen Werte nicht zu unterschätzen, so Kirchhoff: Darunter fallen sowohl das individuelle Genießen von Naturschönheit als auch kollektive kulturelle Symboliken von Wildnis als Ort der Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen oder von bäuerlichen Kulturlandschaften als Ausdruck eines gelungenen Mensch-Natur-Verhältnisses.

Die sich wandelnde Beziehung von Mensch und Natur

Kirchhoff hat sich in seiner Forschung auch mit der Historie des Mensch-Natur-Verhältnisses beschäftigt. Für ihn ist klar: „Unsere Kultur verändert auch immer unseren Blick auf die Natur.“ So galt etwa Wildnis bis ins 18. Jahrhundert vor allem als hässlich und unmoralisch – und wurden gemieden. Nur Kulturlandschaften galten als schön. Vor allem seit der Romantik bekam die Wildnis positive Werte für die Menschen, etwa als Symbol für Freiheit und gute Ursprünglichkeit. Das wurde in der Umweltbewegung ökologisch umgedeutet: „Nun galt Wildnis als die optimale ökologische Ordnung, die nicht vom Menschen zerstört werden dürfe.“ Zu einem Symbol guter Ordnung wird Natur auch gemacht, wenn ein gesunder Wald als solidarische Lebensgemeinschaft stilisiert wird, so Kirchhoff.

Auch Prof. Dr. Jörg Niewöhner würde eher von einer Veränderung des Mensch-Natur-Verhältnisses sprechen, als von einer Entfremdung. Er ist Ethnologe an der Humboldt-Universität zu Berlin und erforscht den Zusammenhang zwischen menschlichem Zusammenleben und den ökologischen Umwelten. Für ihn sind es drei fast parallel laufende Entwicklungen, die zu unserem heutigen westlichen Naturverständnis geführt haben: Die Industrialisierung, die Ausbreitung der kapitalistischen Wirtschaftsform und die Urbanisierung. „Seitdem ist die Natur im westlichen Naturverständnis eine Ressource, die wir unter Kontrolle haben“, sagt er. Er bezeichnet unser Verhältnis zur Natur als extraktivistisch: „Unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaftsform beruhen darauf, der Natur mehr zu entziehen, als sich regenerieren kann. Darauf fußt der Biodiversitätsverlust, den wir heute sehen.“

„Es ist legitim zu sagen: ‚Wir sind Menschen und interessieren uns für Menschen‘ – aber die Selbsterhaltung kann nur durch die Erhaltung der Ökosysteme gelingen.“

Prof. Dr. Jörg Niewöhner, Professor für die Anthropologie der Mensch-Umwelt-Beziehungen an der Humboldt-Universität zu Berlin

Mensch oder Natur im Mittelpunkt des Naturschutzes?

Wenn der Mensch in modernen Gesellschaften ein ausbeuterisches Verhältnis zur Natur hat, würde es dann zu mehr Naturschutz führen, wenn er sich selbst als Teil der Natur begriffe? So ein Ansatz wird in der Umweltethik als Physiozentrismus diskutiert, der Natur einen Eigenwert unabhängig vom Mensch zuschreibt. Er soll einen Gegenentwurf zum Anthropozentrismus bilden, in dem Natur aus der Sicht des Menschen betrachtet wird und nur aus dieser einen Wert hat. Für Kirchhoff ist klar, dass sich aus einer physiozentrischen Sicht keine konkreten Ziele für Naturschutz ableiten lassen: „Dazu müsste aus der Natur selbst ein Zustand abgeleitet werden, der bestimmt, welche Natur schützenswert ist. Das ist aber nicht möglich, weil sich Natur permanent verändert und keinen Superorganismus darstellt, der am Leben erhalten werden müsste. Deshalb brauchen wir immer anthropozentrische Werte als Argumentationsgrundlage.“ Auch Niewöhner hält eine physiozentrische Sicht nicht in jeder Hinsicht für geeignet. Er warnt davor, dass eine solche Sichtweise dazu führen könnte, menschliches Leid zu relativieren – etwa in Folge von Naturkatastrophen: „Das kann sehr radikale Formen annehmen.“

Deshalb finden beide Wissenschaftler, dass der Schutz von Biodiversität immer vom Menschen aus gedacht werden muss – aus einer anthropozentrischen Sicht, die instrumentelle und nicht-instrumentelle Werte von Natur berücksichtigt.

Jörg Niewöhner möchte trotzdem wegkommen von der harten Trennung dieser beiden Sichtweisen. Er meint: „Es ist legitim zu sagen: ‚Wir sind Menschen und interessieren uns für Menschen‘ – aber die Selbsterhaltung kann nur durch die Erhaltung der Ökosysteme gelingen.“ Er fände es wichtig, genau diese Verflechtung zwischen Menschen und Ökosystemen in der Gesellschaft stärker zu diskutieren.

Von indigenen Völkern lernen

Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) nennt in seinem Bericht aus dem Juli diesen Jahres indigene Völker als Vorbilder für die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen. Deshalb will der IPBES zukünftig indigene Völker stärker einbeziehen, etwa wenn Richtlinien erarbeitet und Maßnahmen umgesetzt werden. Auch der Ethnologe Jörg Niewöhner sieht einen Mehrwert darin, sich mit dem Naturverständnis indigener Völker zu beschäftigen: „Schon alleine, um zu erkennen: Unser westliches Verständnis von Natur und Kultur ist nicht universell.“ So geht etwa der sogenannte Multinaturalismus (PDF) davon aus, dass jedes Wesen – egal ob Mensch, Tier oder Pflanze – eine ähnliche Seele hat und das nur der Körper in dem diese Seele steckt, die Perspektive auf die Welt bedingt. So kann etwa das, was für uns Blut ist, für einen Jaguar ein leckeres Getränk sein. Diese Sichtweise ist vor allem bei indigenen Völkern in Südamerika verbreitet. „Es ist für uns sehr schwer, sich da rein zu denken. Das zeigt, wie tief verankert das westliche Naturverständnis in unseren Köpfen ist“, so Niewöhner. Trotzdem warnt er vor einem romantisierenden Bild des Mensch-Natur-Verhältnisses indigener Völker. Diese seien sehr unterschiedlich, das Wissen oft ortsspezifisch und nicht ohne weiteres auf die westliche Welt übertragbar.

„Es ist nicht der Einstellungswandel gegenüber der Natur, den wir in der westlichen Welt brauchen. Wir müssen über die Verantwortung für andere Menschen und über Umweltgerechtigkeit sprechen.“

Dr. Thomas Kirchhoff, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft

Verantwortung übernehmen und Wachstum hinterfragen

Die beiden Forschenden halten jedoch Konzepte abseits eines anderen Mensch-Natur-Verhältnisses für wichtig, um zu mehr Naturschutz zu motivieren. „Es ist nicht der Einstellungswandel gegenüber der Natur, den wir in der westlichen Welt brauchen. Wir müssen über die Verantwortung für andere Menschen und über Umweltgerechtigkeit sprechen“, sagt Thomas Kirchhoff. Er findet es zentral, etwa die Zusammenhänge zwischen Klimawandel oder Biodiversitätsverlust und dem Leid von Menschen im globalen Süden aufzuzeigen. Die Verantwortung von Menschen für Menschen sei das überzeugendste Argument: „Daraus können wir niemanden entlassen – auch nicht aus der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen.“

Jörg Niewöhner findet, dass die Gesellschaft und die Politik sich der zentralen Ursache des Biodiversitätsverlustes bisher nicht stellten: „Wir müssen uns von dem Grundsatz lösen, dass Wohlstand ökonomisches Wachstum bedeuten muss.“ Er glaube, dass es innerhalb des Kapitalismus auch Spielräume für andere Wege gebe: „Wenn wir uns aber keinen anderen Weg vorstellen können, sind die restlichen Bemühungen hinfällig.“

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