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„Wir brauchen eine ökologische Revolution unserer Verfassungsordnung”

Ein Interview mit dem Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Jens Kersten

Wie kann rechtlich dafür gesorgt werden, dass die Natur geschützt wird und Biodiversität erhalten bleibt?

Prinzipiell wird Biodiversität sowohl durch das europäische Umweltrecht als auch durch das nationale Umweltrecht geschützt. Darüber hinaus wird die Artenvielfalt in Deutschland vor allem durch das Bauplanungsrecht gewährleistet, da viele Gebiete mit hoher Artenvielfalt in Städten liegen. Im Verfassungsrecht sieht sich der Umweltschutz durch Artikel 20a des Grundgesetzes als Staatsziel garantiert. In dieser Regelung steht, dass der Staat auch in Verantwortung für zukünftige Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und Tiere schützen soll. Also unsere komplette Umwelt, dazu gehört neben Luft, Wasser und Böden auch die Biodiversität. Das ist allerdings ein rein objektiver Schutzanspruch durch den Staat. Seitdem die Vorschrift im Jahr 1994 eingeführt und 2002 durch den Tierschutz ergänzt wurde, blieb sie allerdings praktisch vollkommen wirkungslos – mit Ausnahme der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz vom 24. März 2021. 

„Die Natur oder Tiere haben keine eigenen Rechte, die sie selbst oder Vertreter*innen für sie einklagen könnten.”

Sie fordern, dass die Natur als Rechtssubjekt anerkannt wird. Wo liegt juristisch der Unterschied, wenn die Natur nicht mehr wie bisher als Objekt, sondern als Subjekt bezeichnet wird?

Die aktuelle Regelung, die Natur als Objekt zu definieren, ist sehr statisch. Es gibt nur einen aktiven Akteur im deutschen Umweltverfassungsrecht: den Staat. Er schützt nach Art. 20a des Grundgesetzes die Umwelt. Dieser Schutz erfolgt allein objektiv-rechtlich. Das bedeutet: Niemand hat einen subjektiven Anspruch darauf, dass die Umwelt auch wirklich geschützt wird, weder die Bürger*innen noch die Natur selbst. Das ist letztlich die Funktion von subjektiven Rechten: Die Rechtsordnung im eigenen oder fremden Interesse, etwa im ökologischen Interesse, in Bewegung zu setzen. Und das fehlt im Umweltverfassungsrecht. Die Natur oder Tiere haben keine eigenen Rechte, die sie selbst oder Vertreter*innen für sie einklagen könnten. Bisher können sich Menschen zwar mit Blick auf ökologische Probleme und Naturzerstörung auf ihre Grundrechte auf Leben und körperliche Gesundheit sowie die Eigentumsgarantie berufen. Doch in der verfassungsrechtlichen Praxis war dies bisher nicht sehr erfolgreich. Deshalb brauchen wir ökologische Rechte, wie beispielsweise ein Recht auf ökologische Integrität, also auf eine intakte Umwelt und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Ein weiteres zentrales Problem, das sich aus dem Objektstatus der Natur ergibt, ist das Fehlen der nachhaltigen juristischen Fairness. Der Nachhaltigkeitssatz soll einen Ausgleich zwischen sozialen, ökonomischen und ökologischen Interessen herstellen. Doch mit Blick auf Klagerechte ist gerade dies nicht der Fall: So kann in der Wirtschaft jede*r gegen alles klagen. Die Natur verfügt über keine Klagerechte. 

Welche Wege gibt es in Deutschland, die Natur als Rechtssubjekt anzuerkennen?

Eine Möglichkeit wäre, dem Vorbild von Ecuador zu folgen. Dort wurden 2008 die Rechte der Natur anerkannt – sie wird als Rechtssubjekt verstanden. Die Natur wird dabei als Einheit, also als großes Ökosystem, begriffen. In der ecuadorianischen Verfassung ist zudem festgehalten, dass jede*r im Sinne der Natur klagen kann, und zwar weltweit. Also auch Sie und ich. Das könnte so auch in Deutschland umgesetzt werden. Dafür müssten im Grundgesetz nach dem Artikel 20a, der die Natur als Objekt definiert, weitere Regelungen eingeführt werden, um das ökologische Konzept der ecuadorianischen Verfassung auch im Grundgesetz umzusetzen. Dadurch würde die Natur allgemein als Rechtssubjekt gelten.

„Was für totes Kapital funktioniert, sollte auch für ökologische Lebewesen gelten.”

Gibt es weitere Möglichkeiten?

Es gibt auch einen anderen Weg, den ich persönlich bevorzugen würde. Er orientiert sich an Artikel 19 Absatz 3 des Grundgesetzes. Im Grunde steht da, dass juristische Personen Grundrechte haben, die ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind. Juristische Personen, also Rechtssubjekte, können soziale oder wirtschaftliche Vereinigungen sein – etwa GmbHs oder Aktiengesellschaften. Diese erhalten nun durch Artikel 19 Absatz 3 des Grundgesetzes die Möglichkeit, Grundrechte einzuklagen, die auf ihr Wesen anwendbar sind: beispielsweise die Berufs- und Wirtschaftsfreiheit oder die Eigentumsgarantie. Das wäre auch für die Natur möglich. Die Idee hinter dieser Möglichkeit ist: Was für totes Kapital funktioniert, sollte auch für ökologische Lebewesen gelten. Dafür müssten zunächst ökologische Personen in Artikel 19 Absatz 3 des Grundgesetzes anerkannt werden. Dann wäre es die Aufgabe des „einfachen“ Gesetzgebers, die unterschiedlichen Arten von ökologischen Personen zu definieren und vor allem auch zu bestimmen, wie diese vertreten werden. Das ist differenzierter als die erste Möglichkeit, die Natur nur pauschal anzuerkennen. Jedes Tier könnte dadurch theoretisch die eigenen Rechte einklagen. Dazu müsste überlegt werden, welche Rechte nach ihrem Wesen auf Tiere anwendbar sind – beispielsweise das Recht auf Bewegungsfreiheit, auf körperliche Unversehrtheit und Leben oder auf ökologische Integrität. Aber auch das Recht auf Wohnung im Sinn eines Ökosystemschutzes.

Und für Pflanzen: Welche Rechte würden ihnen ihrem Wesen nach zustehen?

Hier wäre auch eine Differenzierung zwischen verschiedenen Pflanzenarten möglich. Gerade bei charismatischen Pflanzen oder gefährdeten Arten könnte die Grundrechtsberechtigung – wie bei Tieren – individuell gefasst werden. Andere Pflanzenarten ließen sich über Ökosysteme, also als Teil von Landschaften oder Flüssen schützen, die selbst wiederum als ökologische Personen anerkannt werden können. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber ein ökologisches Gesellschaftsrecht schaffen und in diesem Zusammenhang festlegen müsste, durch wen diese ökologischen Personen vertreten werden können, also beispielsweise durch individuelle menschliche Personen, durch Vereine und Verbände oder durch eine Popularklage. 

„Aus juristischer Perspektive finde ich es wichtig, dass ökologische Konflikte rechtlich gelöst werden.”

Welche Schwierigkeiten ergeben sich bei diesen Wegen, der Natur mehr Rechte zu geben?

Vor allem bei der zweiten Möglichkeit wird kritisiert, dass es zu wahnsinnig vielen Rechtsstreitigkeiten kommen würde. Bei den zahlreichen rechtlichen Streitigkeiten in der Wirtschaft, wie den „VW-Klagen“, beschwert sich aber seltsamerweise niemand. Aus juristischer Perspektive finde ich es wichtig, dass ökologische Konflikte rechtlich gelöst werden. Denn es sind diese Konflikte und deren politische oder gerichtliche Entscheidung, die unsere Rechtsordnung auf der Höhe der Zeit halten. Letztlich sind die Rechte der Natur aber eine Frage der Gewohnheit. In Deutschland und Europa trennen wir stark zwischen Mensch und Natur. Sich vorzustellen, die Natur als gleichwertiges Subjekt anzuerkennen, erscheint vielen fremd und veraltet. Länder in Südamerika oder Neuseeland, die der Natur mehr Rechte zusprechen, haben starke indigene Einflüsse, die eben auch zu anderen juristischen Verständnissen der Natur führen. Davon können wir viel lernen.

Welche juristische Initiative würden Sie sich wünschen?

Im Prinzip brauchen wir eine ökologische Transformation des Grundgesetzes. Die genannten Möglichkeiten, die Verfassung anzupassen, wären erste Schritte. Allgemein müssten neue ökologische Grundrechte geschaffen werden, aber auch ausdrückliche ökologische Schranken für bestehende Grundrechte, wie vor allem die Eigentums- und Wirtschaftsfreiheit, festgelegt werden. Darüber hinaus sollte die Ökologie als Staatsprinzip anerkannt werden, damit auch die Staatsorgane eine sehr viel größere ökologische Sensibilität entwickeln. Des Weiteren benötigen wir ein ökologisches Gesetzbuch, in dem das gesamte Umweltrecht zusammengefasst ist. So wie das Privatrecht im Bürgerlichen Gesetzbuch oder das Sozialrecht im Sozialgesetzbuch. Denn bisher ist das Umweltrecht zerstreut und unsystematisch gestaltet, was häufig dazu führt, dass bei Rechtsstreitigkeiten zugunsten individueller, sozialer oder ökonomischer Interessen entschieden wird. Wir brauchen also insgesamt eine ökologische Revolution unserer Verfassungsordnung. Unsere aktuelle Rechtsordnung ist im Bereich der Ökologie zu statisch. Sie wird den ökologischen Veränderungen, die wir heute täglich erleben und unsere Gesellschaft und Wirtschaft bereits beeinflussen, schlicht nicht mehr gerecht. Die Natur wird nicht mit uns verhandeln. Entweder wir passen uns an oder der Klimawandel und der Biodiversitätsverlust regeln das. Und das ist keine Zukunftsaufgabe. Wir müssen jetzt Verantwortung tragen und juristische Veränderungen herbeiführen. 

 

Zur Person

Prof. Dr. Jens Kersten ist Rechtswissenschaftler und Universitätsprofessor am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München.

 

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