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Oft gescholten, derzeit viel gelobt – Das deutsche Gesundheitssystem im Corona-Check

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich?

Seit Beginn der Corona-Krise steht ein wichtiger Bereich des gesellschaftlichen Systems besonders im Fokus: Das Gesundheitssystem. Maßnahmen, die die Bundes- und Landesregierungen zur Eindämmung der Pandemie eingeführt haben, sollen möglichst viele Menschenleben retten, ohne das Gesundheitssystem zu überlasten. Bisher mit Erfolg, wie das Robert-Koch-Institut und auch die Bundesregierung zuletzt verlauten ließen. Das deutsche Gesundheitssystem, so der Eindruck, ist für die Krise relativ gut gerüstet, jedenfalls im Vergleich zu vielen anderen Ländern.

Als Maßstab wird dabei häufig das Verhältnis zwischen infizierten Toten und der Gesamtzahl der nachgewiesenen Infizierten angeführt, das in Deutschland deutlich geringer ist als in anderen Ländern. Trotz einer hohen Zahl von Infektionen sterben in Deutschland relativ wenige Menschen an oder mit der Erkrankung.

„Es ist uns gut gelungen, uns auf das neuartige Virus und die damit einhergehenden Herausforderungen einzustellen.“

Prof. Dr. Eckhard Nagel, Universität Bayreuth

„Diese Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, denn wir wissen, dass es eine relativ hohe Dunkelziffer im Bereich der Infektionen in allen Ländern gibt, die sich aber aufgrund deren unterschiedlich großer Testkapazitäten und unterschiedlicher Teststrategien auch zwischen Ländern vermutlich stark unterscheidet, dass für die Mortalität relevante demographische, soziale, verhaltensbedingte und Umweltfaktoren sich ebenfalls stark unterscheiden und auch die Verbreitung des Virus regional sehr unterschiedlich verlaufen kann – insbesondere aufgrund von zum Teil zufällig entstehender Hotspots. Das alles macht einen direkten Vergleich schwierig”, sagt Dr. Michael Stolpe, Leiter des Projektbereichs Globale Gesundheitsökonomie am Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. „Trotzdem scheint unser Gesundheitssystem insgesamt relativ gut für die Krise gerüstet zu sein”.

Eine These, die auch Prof. Dr. Eckhard Nagel, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth unterstützt: „Es ist uns gut gelungen, uns auf das neuartige Virus und die damit einhergehenden Herausforderungen einzustellen. Das zeigt, dass wir insgesamt eine gute Verteilung der Gesundheitsversorgung innerhalb der Bundesrepublik – über alle Standorte hinweg – haben.”

Allerdings so Nagel weiter, gelänge dies nur, weil die normale medizinische Grundversorgung deutlich heruntergefahren wurde. Die Sondermaßnahmen, die während der Krise eingeleitet wurden gehen an vielen Stellen auf Kosten derer, die bereits zuvor auf medizinische Versorgung angewiesen waren, der Normalbetrieb der Krankenhäuser wurde vielfach eingestellt. „Das ist aktuell notwendig und richtig, sollte aber nicht außer Acht gelassen werden, wenn wir die Belastbarkeit unseres Gesundheitswesens bewerten”, so Nagel.

„In der Krise ist die Anzahl der deutschen Krankenhäuser für uns ein großer Vorteil.“

Prof. Dr. Eckhard Nagel, Universität Bayreuth

Dass das deutsche Gesundheitssystem überhaupt in der Lage ist so schnell und gut auf die Krise zu reagieren, liegt an einer Besonderheit des deutschen Systems. „Wir haben hier schon lange eine ganz zentrale Verantwortung des Staates im Sinne eines Sicherstellungsauftrags für die stationäre Krankenversorgung. Gleichzeitig haben wir einen Sicherstellungsauftrag bei den kassenärztlichen Vereinigungen für die ambulante Versorgung. Diese ist in Deutschland, was die fachärztliche Versorgung betrifft, so intensiv und gut ausgebaut, wie in kaum einem anderen Land”, sagt Nagel.

Darüber hinaus verfügt Deutschland im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarländern über eine hohe Anzahl an Krankenhäusern und Intensivbetten, die in der Krise besonders gefragt sind. „In der aktuellen Krisenzeit ist beides hilfreich. Allerdings sind viele Krankenhäuser in Deutschland zu klein, um alle Leistungen anbieten zu können. Zudem lohnt es sich für kleine Krankenhäuser oft nicht, eine Vielzahl unterschiedlicher Spezialisten einzustellen, was die Qualität der Behandlungsergebnisse vielerorts beeinträchtigt und die Mortalität bei ausgewählten Diagnosen im internationalen Vergleich erhöht”, sagt Michael Stolpe. „Auch hat die in Deutschland übliche Trennung zwischen stationärem und ambulantem Sektor im Normalfall Nachteile, da Behandlungsprozesse aus Patientensicht oft unterbrochen werden”. So wird die Behandlung einer chronischen Krankheit unter normalen Bedingungen oft zunächst ambulant begonnen, dann in einem Krankenhaus intensiviert und schließlich wieder ambulant fortgeführt, wobei einzelne Patienten immer wieder von unterschiedlichen Ärztinnen und Ärzten betreut werden, die ihrerseits aber nicht immer gut miteinander kommunizieren. „Darunter kann die Behandlungsqualität insgesamt leiden”, so Stolpe.

Zuletzt forderte eine Studie der Bertelsmann Stiftung daher, die Zahl der Krankenhäuser deutlich zu reduzieren, um dadurch eine höhere Versorgungsqualität sicherzustellen. „In der aktuellen Situation kann man sehr froh sein, dass aus den inhaltlich schlecht begründeten Vorschlägen keine direkten Maßnahmen abgeleitet wurden”, sagt Nagel, der der Studie bereits bei der Veröffentlichung kritisch gegenüberstand. „In der Krise ist die Anzahl der deutschen Krankenhäuser für uns ein großer Vorteil und es zeigt sich, dass eine rein ökonomisch getriebene Ausrichtung des Gesundheitssystems nach dem Prinzip der bestmöglichen Kostenreduzierung der falsche Weg ist”.

„Einheitliche flächendeckende Qualitätsstandards der medizinischen Versorgung für alle Menschen gibt es in den USA nicht, was die Eindämmung einer Epidemie erschweren kann.”

Dr. Michael Stolpe, Institut für Weltwirtschaft, Kiel

Welche verheerende Auswirkung eine Unterfinanzierung und Unterausstattung des Gesundheitssystems haben kann, sieht man derzeit in vielen europäischen Ländern. Insbesondere in Ländern mit staatlichem Gesundheitsdienst wie in Spanien und in Italien wurde im Zuge der Austeritätspolitik nach der globalen Finanzkrise von 2008 am Gesundheitssystem gespart, die Folgen zeigen sich heute angesichts der Pandemie in erheblicher Überlastung und einer hohen Zahl von Todesfällen, auch unter den Ärztinnen und Ärzten. Ebenfalls unter akuten finanziellen Zwängen leidet das Gesundheitssystem Großbritanniens, der National Health Service (NHS). „Hier gibt es ein staatliches System, das eine gute Organisationsstruktur hat, einen gewaltigen logistischen Überbau und eine hervorragende Dokumentation bei der konkreten Umsetzung”, sagt Eckhard Nagel. „Das alles hilft aber wenig, wenn sowohl das Fachpersonal als auch die Ressourcen nicht zur Verfügung stehen, weil das System nicht ausreichend finanziert ist”. Nagel hält dies neben dem relativ späten Ergreifen von Maßnahmen für einen der wesentlichen Gründe, warum die Epidemie Großbritannien deutlich stärker trifft als andere Nationen.

Geld allein hilft aber in der aktuellen Situation nicht, wie die Situation in den USA zeigt. „Dort fließt sehr viel Geld in die Gesundheitsbranche – und zwar fast doppelt so viel, wie in anderen Ländern, bezogen auf das Bruttosozialprodukt”, sagt Nagel. „Um auf eine solche Krise zu reagieren, braucht es neben finanziellen Mitteln aber eben auch eine Organisations- und Infrastruktur – und wenn eines von beiden fehlt, wird es schwierig.”

Hinzu kommt, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen den europäischen Gesundheitssystemen und der Situation in den USA gibt, der ideologischer Natur ist. „In Europa gibt es zwar unterschiedliche Systeme, aber die Systeme haben gemein, dass ihr Ziel ist, allen Menschen gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu gewähren. Das ist in den USA anders”, sagt Stolpe. Im Gegensatz zu den europäischen Systemen ist das amerikanische Gesundheitswesen – trotz aller Bemühungen des ehemaligen Präsidenten Barack Obama – immer noch ein relativ wenig regulierter Markt, auf dem reiche Menschen sich eine gute Versorgung kaufen können, während Armen der Zugang zu vielen Gesundheitsleistungen de facto oft verwehrt bleibt. Dies gilt dort selbst im Falle des Ausbruchs ansteckender Krankheiten und so musste der amerikanische Kongress in Reaktion auf die explosionsartige Zunahme der Infektionen eigens ein Gesetz verabschieden, dass die Kostenübernahme von Corona-Tests und Behandlungen durch den Staat erst ganz kurzfristig einführte. „Das ist ein wesentlicher Unterschied, einheitliche flächendeckende Qualitätsstandards der medizinischen Versorgung für alle Menschen gibt es in den USA nicht, was die Eindämmung einer Epidemie erschweren kann”, sagt Stolpe.

„Ich denke, nach der Krise sollten länderübergreifend koordinierte Notfallpläne für künftige Pandemien entwickelt werden.“

Dr. Michael Stolpe, Institut für Weltwirtschaft, Kiel

Auch die Verwaltungsstruktur Deutschlands ist für die aktuelle Krise durchaus vorteilhaft. So sieht Eckhard Nagel einen weiteren Vorteil des deutschen Systems in der föderalen Struktur des deutschen Gesundheitssystems und teilt daher die vielfach geäußerten Forderungen nach zeitgleichen bundesweiten Lösungen nicht: „Es gibt große regionale Unterschiede, was beispielsweise die Infektionsraten angeht, und die müssen beachtet werden. Ich sehe deshalb in der derzeitigen Situation eine Sternstunde des Föderalismus, denn man kann vor Ort eine Situation besser einschätzen als aus der Hauptstadt.” Bezogen auf das Gesamtsystem sieht Nagel die deutsche Gesundheitsversorgung selbst dann gut aufgestellt, wenn die Situation noch länger anhält. Lediglich in Bezug auf die finanzielle Situation einzelner Krankenhäuser und vor allem die Belastung des Personals, müsse man sich verstärkt Sorgen machen, je länger die Belastung andauere.

Langfristige Schäden vermutet auch Michael Stolpe nicht für das Gesundheitssystem, vielmehr glaubt er daran, dass es gestärkt aus der aktuellen Krise hervorgehen könnte, da jetzt beispielsweise die Bedeutung von Reservekapazitäten viel präsenter sei als in vielen Diskussionen bisher. „Außerdem hoffe ich, dass wir eine Idee dafür entwickeln, wie wir in Europa künftig gemeinsam Strukturen schaffen, mit solchen Krisen umzugehen und insbesondere teure Ressourcen wie Intensivbetten und Laborkapazitäten noch effizienter zu nutzen. Das passiert derzeit vereinzelt und adhoc, indem deutsche Krankenhäuser mit freien Intensivbetten zum Beispiel schwer an Covid-19 erkrankte Italiener und Franzosen in Deutschland behandeln. Ich denke aber, nach der Krise sollten länderübergreifend koordinierte Notfallpläne für künftige Pandemien entwickelt werden”, sagt Stolpe. „Das wäre wichtig, um für die nächste Krise noch besser gerüstet zu sein und zwar europaweit und nicht nur in Deutschland”.

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