Foto: Stefan Straube

„Wenn man Depressionen hat, ist es viel schwieriger, mit der momentanen Situation umzugehen“

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Ulrich Hegerl

Aktuell sind wir aufgrund der Gefahr des Corona-Virus dazu angehalten, soziale Kontakte möglichst weit zu reduzieren. Was bedeutet das für uns als Individuen?

Die Isolation besteht ja vor allem im räumlichen Sinne – denn im geistigen Sinne rücken die Menschen in Krisenzeiten sogar näher zusammen und das ist jetzt auch zu beobachten, trotz der Hamsterkäufe. Die Zeit lässt sich sogar sehr gut dazu nutzen, um wieder mal mit Menschen in Kontakt zu treten, die man durch die übliche Geschäftigkeit aus den Augen verloren hat. Es ist eine Gelegenheit, um soziale Kontakte zu pflegen. Dafür gibt es in der heutigen Zeit genügend technische Lösungen. Manche Menschen haben das Corona-Thema zum Einzigen gemacht, womit sie sich beschäftigen. Mein Rat an diese wäre, lenken Sie den Scheinwerfer ihrer Aufmerksamkeit auch auf andere Dinge. Sie übersehen sonst, dass die momentane Krise, soviel Leid und reale Sorgen sie auch verursacht, auch Chancen bietet. Vielleicht haben Sie Zeit, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig in Ihrem Leben ist oder in Ruhe eine Beethoven-Sonate anzuhören oder ein Buch zur Hand zu nehmen, das Sie schon immer mal lesen wollten.

Welche Folgen können die momentanen Anordnungen für Menschen mit psychischen Problemen haben?

Es ist nicht so, dass die zur Zeit angeordneten Isolationen oder realen Sorgen und Probleme durch die Virusinfektion in großer Zahl zu Depressionen führen, aber wenn man Depressionen hat, und davon sind jedes Jahr circa fünf Millionen Menschen in Deutschland betroffen, dann ist es noch viel schwieriger, mit der momentanen krisenhaften Situation umzugehen.

„Meine große Sorge ist, dass es durch den Rückgang der Versorgungsqualität für Menschen mit Depressionen zu einer Zunahme der Suizide und Suizidversuche kommt.“

Was sind die Gründe dafür?

Zum einen neigen Menschen mit Depressionen dazu, negative Dinge intensiver wahrzunehmen, da liefert die momentane Situation natürlich jede Menge Futter für die Depression. Zudem ist die Fähigkeit, sich auf Veränderungen im Alltag einzustellen, beispielsweise weil man in Quarantäne ist, reduziert. Schon kleine Dinge erscheinen wie ein großer Berg. Auch nimmt die Qualität der Versorgung zur Zeit ab, was mir große Sorgen bereitet: Psychotherapiestunden werden abgesagt, psychiatrische Ambulanzen werden geschlossen, Selbsthilfegruppen finden nicht mehr statt, stationäre psychiatrische Einrichtungen entlassen Patienten. Über Videosprechstunden, Telefonate und viele andere Maßnahmen machen die Kliniken und die niedergelassenen Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten große Anstrengungen, um Lösungen zu organisieren, aber das gelingt nur teilweise. Meine große Sorge ist, dass es durch den Rückgang der Versorgungsqualität für Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen zu einer Zunahme der Suizide und Suizidversuche kommt.

Welche Tipps geben Sie Betroffenen, um die Situation zu meistern?

Sie können digitale Hilfsangebote nutzen. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet kostenfrei das iFightDepression-Tool an. Betroffene können sich formlos über die E-Mail-Adresse ifightdepression@deutsche-depressionshilfe.de für das Programm anmelden und werden meist innerhalb von 24 Stunden freigeschaltet. In den letzten Tagen haben bereits mehrere Tausend Menschen dieses Angebot genutzt. Es hilft dabei, eine Tagesstruktur aufzubauen, was Menschen in der Depression sehr schwerfällt. Es zeigt, wie man versuchen kann, negative Gedankenkreise zu durchbrechen oder wie der Zusammenhang zwischen Bettzeit und Stimmung ist. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt. Denn wenn man gezwungen ist, viel Zeit zu Hause zu verbringen, dann ist gerade für die unter Erschöpfungsgefühlen leidenden depressiv Erkrankten die Versuchung groß, früher ins Bett zu gehen, länger liegen zu bleiben oder tagsüber sich hinzulegen. Bei den meisten depressiv Erkrankten führt das aber nicht zu der erhofften Erholung, sondern im Gegenteil, die Depression wird noch schwerer. Dies ist durch Forschung sehr gut belegt und Schlafentzug, wie er auf Depressionsstationen den Patienten angeboten wird, wirkt ja zu deren Überraschung antidepressiv. Stellt man nun bei sich mit Hilfe des iFightDepression-Tools einen Zusammenhang zwischen langen Bettzeiten und schlechterer Stimmung am nächsten Tag fest, so kann man versuchen, die Zeit im Bett auf 7-8 Stunden zu reduzieren.

„Die Entschleunigung und Abnahme der Geschäftigkeit birgt immer das Problem, dass die Menschen sich in der vermehrten freien Zeit langweilen. Und Langeweile ist eine viel größere Menschheitsgeißel als man glaubt.“

Ihr Ratschlag ist also möglichst aktiv zu sein, sich viele neue Impulse zu setzen und eine feste Tagesstruktur zu erarbeiten?

Ja, genau. Und das gilt nicht nur für Menschen mit Depressionen sondern ganz allgemein. Es ist natürlich eine hohe Hürde sich nicht nur neue Ziele zu stecken, sondern diese auch wirklich umzusetzen. Denn längst nicht jeder hat die Disziplin und bei schweren Depressionen fehlt oft auch schlicht die Kraft und Hoffnung.

Könnten die aktuelle Zeit auch dazu beitragen, dass sich das Leben jedes Einzelnen etwas entschleunigt?

Die Entschleunigung und Abnahme der Geschäftigkeit birgt immer das Problem, dass die Menschen sich in der vermehrten freien Zeit langweilen. Und Langeweile ist eine viel größere Menschheitsgeißel als man glaubt. Einige Menschen kommen zwar mit freier Zeit nicht nur gut zurecht, sondern sind dankbar dafür, viele brauchen jedoch äußere Reize und Unterhaltung. Netflix, Social Media-Aktivitäten oder Computerspiele können hier helfen. Durch Handy und die Sozialen Medien ist Ablenkung immer zur Hand und viele Menschen haben auch verlernt, freie Zeit mit Eigenem zu füllen und sinnvoll zu nutzen. Ich bin sehr gespannt auf die Auswirkungen dieser Krise auf das geistige Leben in Deutschland und der Welt. Über Vieles wird neu gedacht und gefühlt werden. Die Magnolienblüten haben sich geöffnet, die Forsythien blühen, der Frühling kommt, und diesen werden wir dieses Jahr alle anders wahrnehmen, vielleicht bewusster, als in den Jahren vorher.

 

Der Psychiater Prof. Dr. Ulrich Hegerl ist Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und hat zudem an der Goethe-Universität Frankfurt die Johann Christian Senckenberg Distinguished Professorship an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie inne.