Es ist ein großes „Aber“, das derzeit jeden Satz begleitet, der etwas mit dem Schulstart in Zeiten von Corona zu tun hat: Alle Kinder und Jugendlichen sollen nach Monaten des Lockdowns nun endlich wieder am Unterricht teilnehmen. Aber bitte mit Maske. Und Hände waschen. Die Eltern mögen diese Dinge regelmäßig mit ihren Kindern besprechen. Je nach Bundesland soll der Mund-Nasen-Schutz gegen Corona nur in den Fluren und Treppenhäusern getragen werden (Hamburg), anderswo auch während des gesamten Unterrichts (NRW). Andere Bundesländer machen kaum Auflagen (Hessen).
Viele Eltern schicken ihre Kinder in diesen Tagen mit einem mulmigen Gefühl in den Unterricht oder in die Kita. Viele Fragen rund um das Infektionsrisiko, das von Kindern ausgeht, sind noch nicht abschließend beantwortet. Setzt man als Mutter oder Vater seine Kinder und vielleicht auch sich selbst einem unnötigen Risiko aus? Welche Rolle spielen Kinder und Jugendliche bei der Übertragung von Sars-Cov-2, dem Virus, das Covid19 auslöst? Warum erkranken Kinder deutlich seltener an COVID-19? Und wenn sie krank werden, weshalb verläuft Covid19 dann meist ohne erkennbare Symptome oder eher mild?
Erste Ergebnisse
Bereits im Mai wurde berichtet, dass Kinder im Vergleich zur Grippe deutlich seltener und mit milderen Symptomen an COVID-19 erkranken als Erwachsene. Große Analysen aus China, Italien und den USA hatten gezeigt, dass lediglich ein bis zwei Prozent aller COVID-19-Patienten unter 18 Jahre alt waren. In Deutschland machten im Mai Kinder und Jugendliche rund drei Prozent der bestätigten Infizierten aus, daran hat sich bis in den Sommer hinein nichts geändert.
Wie Forscher aus China im April berichteten, stecken sich Kinder mit der gleichen Wahrscheinlichkeit bei infizierten Kontaktpersonen an, wie alle anderen Altersgruppen. Auch die Virusmenge (Viral Load) aus Rachenabstrichen von Kindern war in Analysen vergleichbar hoch mit jenen von Erwachsenen. Dass Kinder nicht nur eine vergleichbar hohe Viruslast aufweisen, sondern auch selber infektiös sein können, zeigte auch eine als Preprint veröffentlichte Studie aus einer Arbeitsgruppe aus Genf.
Im Gegensatz zu den virologischen Daten stehen aber die Auswertungen zu Indexpatienten, also jenen Personen, die als erstes innerhalb einer Familie erkranken. Eine Analyse von 31 Haushalten in China, Singapur, Südkorea, Japan und Iran zeigte, dass lediglich 9,7 Prozent der Indexfälle auf Kinder zurückging. Das niederländische Institut für Gesundheit und Umweltschutz fand bei der Untersuchung von 54 Haushalten keinen einzigen Indexpatienten unter zwölf Jahren. Kinder scheinen sich deutlich seltener und wenn überhaupt bei Erwachsenen anzustecken. Darauf weisen auch Daten aus Schweden hin, wo Kinder weiterhin wie gewohnt Kindergärten und Schulen besuchen und trotz dessen nur knapp zwei Prozent der COVID-19-Infizierten ausmachen. Also können Kinder doch wieder in die Schulen, hieß es dann.
Schulschließen: „Das bringt nicht so viel“
Eine Studie von Forschern in Südkorea sorgte im Juni für Aufregung, ergab diese doch, dass Kinder zwischen 10 und 19 Jahren das Coronavirus häufiger verbreiten als Erwachsene, was die Debatte über die Risiken einer Wiedereröffnung von Schulen erneut beeinflusste: Also lieber doch weiter Kinder im Familienkreis und zuhause unterrichten?
Zusätzliche Daten des südkoreanischen Forschungsteams Anfang August nahmen diese Sorge ein wenig zurück: Demnach war es in den untersuchten Fällen überhaupt nicht klar, wer hier wen infiziert hatte.
Man solle bei so wichtigen Entscheidungen wie „Schulöffnung Ja / Nein“ auf keinen Fall nur auf einzelne Studie verlassen, betonen die Forscher. Das sei ein generelles Problem vieler Untersuchungen, die sich mit der Viruslast bei Kindern befassten. Meist wurden Kinder unterschiedlichsten Alters zusammengefasst. Ein 10-Jähriger unterscheidet sich jedoch wahrscheinlich stark von einem 20-Jährigen in Bezug auf Infektionsrisiko und -übertragung sowie in Bezug auf Art und Ausmaß der sozialen Aktivität, sagt der britische Kinderarzt Alasdair Muro in der New York Times. Und auch von Erwachsenen.
Aber worin genau gründet sich der Unterschied zwischen Kindern und älteren Menschen? Es gibt verschiedene Theorien, berichtet Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie an der Technischen Universität München (TUM) und am Helmholtz Zentrum München.
Eine besagt, dass Kinder eine andere Art B-Zellen haben, die mehr dazu neigen, breiter wirksame Antikörper zu bilden. Eine andere sieht den Grund für den Unterschied in der Besetzung eines Rezeptors, der eine wesentliche Rolle bei der Entstehung einer Sars-Cov-2-Infektion spielt. Hier könnte die Verteilung unterschiedlich sein. „Aber dazu müsste man jetzt systematische Biopsien machen. Das macht natürlich kein Mensch, gerade nicht bei Kindern.“
März: Alle Schulen geschlossen
Die Entscheidung aus März 2020, bundesweit die Schulen zu schließen, war nicht unumstritten. Der Mann, der maßgeblich daran beteiligt war, ist der bekannteste Virologe Deutschlands: Christian Drosten. Am 10. März 2020 hatte er noch in seinem Podcast zum Thema Schulschließung erklärt: „Das bringt nicht so viel.“ Er war der Meinung, dass sich die Ansteckungsgefahr nur verlagern würde, etwa wenn Nachbarskinder gemeinsam spielten. Außerdem könnten die Eltern nicht mehr zur Arbeit gehen. „Wir müssen andere Dinge machen, die keinen großen Schaden in der Organisation der Gesellschaft anrichten oder im wirtschaftlichen Leben“, erklärte der Wissenschaftler.
Doch nur einen Tag später änderte Drosten, damals schon Corona-Berater der Bundesregierung, seine Meinung. Eine Kollegin habe ihm eine wichtige Arbeit zugeschickt: Eine Auswertung von Daten über die Spanische Grippe von 1918 bis 1919 in 43 amerikanischen Städten, erschienen im Fachmagazin „Journal of the American Medical Association“. Diese habe ihm gezeigt, dass es doch extrem viel nutzen würde, zwei oder mehr Maßnahmen zu kombinieren. Veranstaltungsstopp und Schulschließungen in Kombinationen seien extrem effizient – vor allem wenn man das mehr als vier Wochen durchhält. „Und dann je früher, desto besser“, zitiert ihn der SPIEGEL.
Dass längst nicht alle Ministerpräsidenten die Schule in ihren Ländern schließen wollten, dass Forscher der Nationalakademie Leopoldina vor einer Verschärfung sozialer Ungleichheit durch geschlossene Schulen und Kitas warnten, dies alles änderte nichts. Bis nach den Sommerferien blieben die Schulen in den meisten Bundesländern mehr oder minder zu, im Juli wurde der Lockdown vielerorts allerdings meist vorsichtig gelockert.
Heute ist klar, wie begrenzt die Studie zur Spanischen Grippe auf die aktuelle Corona-Pandemie übertragbar ist: Anders als bei der Spanischen Grippe scheinen Kinder weniger anfällig für das neuartige Coronavirus zu sein als Erwachsene. Auch Drosten hat seine Empfehlungen für Kitas und Schulen geändert. Im Gespräch mit dem SPIEGEL sagt er: „Ganz klar, die müssen wir öffnen, und zur Hälfte öffnen kann man sie auch nicht. Auch wenn wir immer noch nicht genau wissen, wie ansteckend Kinder sind.“
„Es ist inzwischen klar, dass Kinder die Infektion bekommen und auch übertragen können“, sagt hierzu Virologin Ulrike Protzer. „Aber es ist auch gesichert, dass Kinder nur in seltenen Fällen schwerer erkranken.“ Für Kinder bestehe daher nur eine geringe Gefährdungslage. „Aber sie haben natürlich Eltern und Großeltern und in den Schulen sind auch die Lehrer“. Protzer, die die Bayerische Bundesregierung zur Corona-Krise berät, plädiert daher für gute Hygienekonzepte. „Die Schulen können dies nicht allein, dafür braucht es spezielle Fachexpertise.“
Protzer empfiehlt einen Hygiene-Beauftragten für jede Schule. „Er ist im Austausch mit anderen Schulen und dem Gesundheitsamt, um die Konzepte zu verfeinern. Und wenn eine Infektion auftritt, muss er schnellstmöglich reagieren, um die Infektion zu begrenzen, und eine Schließung der gesamten Schule zu vermeiden.“
Auch neuerliche Empfehlungen der Leopoldina in einer Ad-hoc-Stellungnahme Anfang August gehen in diese Richtung: „Kinder und Jugendliche, deren Familien und pädagogische Fachkräfte sind in besonderem Maße von der aktuellen Krise betroffen.“ Die Leopoldina nennt daher Maßnahmen, die das bestehende Bildungssystem unter Krisenbedingungen widerstandsfähiger und flexibler machen sollen, darunter etwa die Entwicklung von Konzepten zur Verzahnung von Präsenz- und Distanzlernen oder Unterstützung pädagogischer Fach- und Lehrkräfte beim professionellen Einsatz digitaler Medien. „Vorrangiges Ziel“ sei es, „den Zugang zu Bildungseinrichtungen so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.“
Heute: Alle in die Schule
Experten wie der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Johannes Hübner empfehlen im Interview mit SPIEGEL ONLINE spätestens ab einer mittleren Zahl Neuinfektionen, dass die Schulen Klassenverbände klar definieren. Nur Kinder einer Klasse sollten dann Kontakt miteinander haben. Selbst wenn dann Infektionsfälle an Schulen auftreten, muss nicht gleich die ganze Einrichtung geschlossen werden. Es reiche, wenn der betroffene Klassenverband isoliert und getestet werde, erklärt der Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie. Falls sich ausschließen lässt, dass ein Lehrer das Virus von Klasse zu Klasse getragen hat, können die übrigen Schüler weiter zum Unterricht gehen. Außerdem sollten Klassenräume regelmäßig gelüftet werden. Das reduziere das Risiko, dass Sars-CoV-2 in der Luft zu Ansteckungen führt, sagt Hübner.
Bereits in den Sommerferien sind die Corona-Fallzahlen in Deutschland wieder gestiegen, am 13. August etwa meldete das Robert Koch-Institut (RKI) erstmals seit drei Monaten wieder mehr als 1000 Corona-Neuinfektionen an einem Tag. Die Kritik an der Öffnung der Schulen nahm seitdem zu. Gesundheitsminister Jens Spahn gab sich unlängst unbeeindruckt: Die Rückkehr zu einem flächendeckenden Schulunterricht und die Betreuung von Kindern müsse klare Priorität in der Corona-Politik haben, erklärt er am 18. August gegenüber Pressevertretern. Pünktlich zum Schulstart in Hessen betont er, dass es eine klare Abstufung geben müsse, welche Lebensbereiche am wichtigsten seien. Dazu gehöre eindeutig die Rückkehr zu einem Bildungs- und Betreuungsangebot. Was das nun in jedem Bundesland bedeutet, wird sich zeigen: Zuständig für Maßnahmen beim Infektionsschutzgesetz sind die Bundesländer.