Aus seiner Sicht ist ‚Cancel Culture‘ als Protestform aufgrund von Änderungen in der Struktur der Öffentlichkeit möglich geworden: „Vor allen Dingen durch Social Media gibt es eine größere Teilnehmer*innenschaft an öffentlichen Debatten, dadurch hat quasi eine Demokratisierung der Debatte stattgefunden. Gleichzeitig gibt es Bubbles und algorithmische Aufschaufelungen – all diese Phänomene ändern die Dynamiken des Diskurses.”
Für eine Bedrohung der Meinungsfreiheit halten die drei Expert*innen ‚Cancel Culture‘ nicht. Prof. Dr. Christian Bermes sieht in ‚Cancel Culture‘ aber eine Gefahr für die Meinungsbildung. ‚Cancel Culture‘, so legt er dar, sei in diesem Sinne ein „Culture Cancelling“, wodurch die Vielfalt unterschiedlicher Formen der Meinungsbildung gefährdet werde. Liberale Demokratien setzten auf eine „aufgeklärte Offenheit“, in jeweils verschiedenen Debatten mit anderen Positionen umzugehen, und nicht immer eine definitive Entscheidung für alle Debatten zu suchen: „Wir haben in unserer westlichen Kultur und speziell hier in Deutschland kein Problem mit der Meinungsfreiheit im juristischen Sinn. Das Problem der ‚Cancel Culture‘ scheint mir eher ein profundes Problem der Meinungsbildung zu sein. Meinungsfreiheit setzt freie Meinungsbildung voraus. Und dafür müssen sich Meinungen der Debatte stellen und andere Positionen auch zulassen.”
Schubert hingehen sieht die Einschränkung der Meinungsbildung nicht durch ‚Cancel Culture‘, sondern im Status quo, weil meist nur hegemoniale Perspektiven Gehör fänden. „‚Cancel Culture‘ macht die Debatte pluraler und trägt deshalb zur Demokratisierung bei“, so Schubert.
Auch Geier sieht die Gefahr für die Debattenkultur nicht etwa in der ‚Cancel Culture‘, sondern in dem Diskurs über sie: „Es wird so getan, als gäbe es eine ernsthafte Bedrohung eines wirklich wichtigen Gutes – der Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit –, obwohl diese Bedrohung so nicht existiert. Dieses Bedrohungsszenario der ‚Cancel Culture‘ ist wirklich ein Phantasma. Dass ein falscher Alarmismus so viel Aufmerksamkeit bekommt, ist selbst hochbedrohlich, weil er Platz wegnimmt. Den bräuchten wir, um die wirklich ernsthaften Bedrohungen zu diskutieren, die es ja auch gibt.”