Während die einen sich also von Grenzen des Sagbaren in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt sehen, wird gleichzeitig häufig vor einer Verschiebung solcher Grenzen und einer zunehmenden Verrohung des Diskurses gewarnt. „Diese Verschiebung lässt sich mit der AfD und ihren Sympathisant*innen in Verbindung bringen. Sprachliche Tabus, die Grenzen des Sagbaren konstituieren, werden zur Verschiebung eben dieser Grenzen bewusst verletzt. Beispiele dafür sind der berühmte ‚Vogelschiss‘ oder das ‚Denkmal der Schande‘. Auf die Tabubrüche folgt oft eine halbherzige Entschuldigung, um dann gleich den nächsten Tabubruch zu begehen”, sagt Thomas Niehr. Diese wiederholten Tabubrüche bleiben nicht folgenlos. „Wenn man Tabus ständig bricht, sind es natürlich irgendwann keine Tabus mehr. Und wo Grenzen des Sagbaren verschoben werden, fällt der Schutz von Minderheiten vor sprachlicher Gewalt weg. Dahinter steckt eine Strategie, mit der gegen ein behauptetes Diktat der Political Correctness angegangen wird, das unsere Meinungsfreiheit angeblich einschränkt”, so der Experte für politische Sprache weiter.
Der wiederholte Vorwurf, dass es in Deutschland keine Meinungsfreiheit gebe, dient Schröter zufolge zum einen dazu, politische Gegner*innen als diktatorische Zensor*innen zu delegitimieren und sich selbst als Kämpfer*innen für Meinungsfreiheit und Opfer angeblicher Diskurswächter*innen zu stilisieren und legitimieren. „Auf diese Weise versucht man, möglicher Kritik den Boden zu entziehen und inhaltliche Auseinandersetzungen zu vermeiden”, sagt sie.
Außerdem werde durch die ständige Behauptung eines Demokratiedefizits der Status Quo stetig angegriffen: „In diesem Metadiskurs über eine angebliche Diskurshoheit schwingt mit, dass es eine Mehrheit gebe, die von einer Minderheit zum Schweigen gebracht wird. Das ist eine Zensurbehauptung, mit der in Frage gestellt wird, ob wir überhaupt in einer Demokratie leben”, so Schröter. Schließlich gehe es auch um eine historische Umkehr: Während die Betonung der Relevanz von Teilhabe und Diskussion in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte eher von linker Seite komme, komme der seit den 1990ern geäußerte Vorwurf, dass es zensierende Diskurswächter*innen gebe, durchgehend von politisch rechter Seite. „Mit dem neurechten Topos der Diskurswächter*innen wirft die Neue Rechte der Linken vor, ihre eigenen Ideale zu verraten, sobald es um die Meinungsfreiheit politisch Andersdenkender gehe”, sagt Schröter.