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„Wir bewegen uns in einem wilden Debattierraum”

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Christian Bermes

Sie beschäftigen sich im Rahmen Ihrer Forschung mit dem Wandel von Sprach- und Debattenkultur. Wie lange setzt sich die Wissenschaft bereits mit Debatten auseinander?

Die Auseinandersetzung mit Debatten ist keineswegs neu. Man könnte sagen, sie hängt immer mit der jeweiligen politischen Ordnung zusammen: Wenn wir uns Gedanken über politische Ordnung oder über politisches Handeln machen, machen wir uns immer auch Gedanken über Debatten. Bereits bei der Entstehung der politischen Philosophie in der Antike ging es um die Debattenkultur.

Wie geht man bei der Erforschung von Debatten vor?

Es gibt zum einen Zugänge aus der Linguistik. Hier werden Sprachanalysen durchgeführt, indem beispielsweise Redebeiträge oder bestimmte Kommunikationsformen untersucht werden. Dann gibt es zum anderen auch Zugänge aus der Rhetorik: Wie funktioniert eine überzeugende Rede? Welche angemessenen Mittel können hierfür eingesetzt werden? Ich komme aus der Philosophie und beschäftige mich mit der grundsätzlichen Frage nach dem Zusammenhang von Auseinandersetzungen um die Debattenkultur mit der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Welche Fragen spielen in dieser Auseinandersetzung eine Rolle? Welche Probleme werden benannt, welche werden nicht benannt?

Wenn wir uns die heutigen Debatten anschauen […], dann zeichnen sich all diese Debatten durch einen starken, fast schon selbstverständlichen Bezug auf naturwissenschaftliche oder soziologische Studien aus. Dabei rücken die eigenen Motive und Interessen, mit denen auf die Studien verwiesen wird, deutlich in den Hintergrund.“

Welche Veränderungen haben Sie in Ihrer Forschung in Debatten wahrgenommen?

Hier möchte ich zwei Punkte nennen, die mit Blick auf die aktuelle Debattenkultur auffallen. Der erste Punkt: Wenn wir uns die heutigen Debatten anschauen, beispielsweise die um den Pflanzenschutz, den Tierschutz, den Klimawandel oder die Corona-Pandemie, dann zeichnen sich all diese Debatten durch einen starken, fast schon selbstverständlichen Bezug auf naturwissenschaftliche oder soziologische Studien aus. Dabei rücken die eigenen Motive und Interessen, mit denen auf die Studien verwiesen wird, deutlich in den Hintergrund. Wir unterhalten uns also gar nicht mehr über die Interessen selbst, sondern nur noch über die Studien. Die Frage, ob die Interessen selbst gerechtfertigt sind, fällt aus dem Diskurs heraus. An die Stelle des Streits um Ziele und Interessen tritt ein Gefecht um die Relevanz von Studien.

Ein zweiter Punkt ist, dass Debatten häufig so geführt werden, als müsste unbedingt ein bestimmtes Ergebnis dabei herauskommen. Debatten im Gerichtssaal oder im Bundestag müssen natürlich ergebnisorientiert sein, denn man muss zu einem Urteil kommen oder über einen Gesetzentwurf entscheiden. Aber ich glaube, wir machen einen Fehler, wenn wir alle Debatten nur in einem solchen Sinne als ergebnisorientiert führen – Debatten haben gelegentlich auch einfach nur den Zweck der Selbstverständigung.

In welchen Räumen finden heutzutage gesellschaftliche Debatten statt?

Debatten finden nicht nur in einem Medium statt. Wenn wir uns unsere Lebenswirklichkeit einmal anschauen, dann sehen wir, dass wir in die verschiedensten Debatten in den unterschiedlichsten Formaten eingetaucht sind. Wir lesen Zeitungen, Bücher, Tweets und Posts, wir sprechen mit Freundinnen und Freunden, wir treffen in Cafés und Kneipen auf Menschen – wenn sie denn wieder geöffnet sind. Wir bewegen uns also in einem wilden Debattierraum, in dem es keine moderierende Instanz gibt, keine Geschäfts- oder Tagesordnung. Ich glaube, es würde das Debattenklima tatsächlich verengen, wenn wir der Ansicht wären, Verständigung würde nur auf diesem oder jenem Medium stattfinden. 

„Das Internet selbst ist keine Öffentlichkeit, sondern Teil der öffentlichen Verständigung. Es ist nicht für die Debatten verantwortlich, sondern wir sind es, die Debatten führen und wir tragen dafür Verantwortung.“

Wie hat das Internet als neuer öffentlicher Raum Debattenkultur verändert?

„Das Internet” ist zunächst einmal ein grobes Schlagwort, weil es ja verschiedene Plattformen eröffnet. Das Internet selbst ist keine Öffentlichkeit, sondern Teil der öffentlichen Verständigung. Es ist nicht für die Debatten verantwortlich, sondern wir sind es, die Debatten führen und wir tragen dafür Verantwortung. Das heißt nicht, dass die Medien gar keine regulierende Funktion auf Debatten hätten und diese nicht auch beeinflussen können. Aber man muss schon auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Debatten in die Verantwortung nehmen. 

Oft wird von einer Verrohung des Dialogs gesprochen. Beobachten Sie dies ebenfalls? 

Von verschiedener Seite wird auf eine Verrohung der Debattenkultur hingewiesen. Auch der Bundespräsident hat darauf aufmerksam gemacht, insbesondere im Zusammenhang mit dem Aufkommen populistischer Tendenzen in politischen, aber auch in öffentlichen Arenen. Er versteht unter einer Verrohung der Debattenkultur, dass die Differenz zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen nicht mehr gesehen wird, dass man sich auf die Einhaltung bestimmter Konventionen nicht mehr verlassen kann. Es ist zu beobachten, dass an einigen Stellen diese eingespielten Routinen der Debattenkultur nicht mehr tragfähig sind. Die entscheidende Frage ist, wie man damit umgeht. Man wird das Auseinanderdriften der Debattenkultur ja wiederum nur durch eine Debatte einfangen können. In dieser Auseinandersetzung stehen wir noch relativ am Anfang.

Sie haben eben die sogenannte Grenze des Sagbaren angesprochen. Muss diese denn ständig neu ausgehandelt werden?

Zunächst einmal können wir uns dabei auf die Gesetzgebung beziehen – Verleumdung und Beleidigung beispielsweise sind rechtlich nicht zulässig und es gibt Institutionen und Verfahren, in denen Verstöße geprüft werden. Darüber hinaus gibt es eingespielte gesellschaftliche Routinen, so dass bestimmte Themen nicht mehr als vernünftiger Bestandteil zum Spiel der Debatte gehören – niemand würde auch nur im Ansatz das Frauenwahlrecht in Frage stellen wollen. Und dann gibt es tatsächlich Themen, bei denen es sinnvoll ist, eine Debatte darüber zu führen, was wir tolerieren und was wir nicht tolerieren. 

„Ich würde sagen, dass es sich bei „Cancel Culture” im engeren Sinne um Bestrebungen handelt, öffentliche Bühnen zu reglementieren. Diese Reglementierung findet dabei nicht durch die Verantwortlichen statt, sondern durch diejenigen, die Druck auf Veranstalterinnen und Veranstalter ausüben, die Bühne nicht für diese oder jene Veranstaltung zu öffnen.“

Immer öfter ist in gesellschaftlichen Debatten von „Cancel Culture” zu hören und lesen. Was bedeutet „Cancel Culture” und woher kommt der Begriff?

Begrifflich ist „Cancel Culture” gar nicht so klar gefasst. Der Begriff wird momentan für ganz unterschiedliche Fälle benutzt und stammt aus dem angelsächsischen und insbesondere aus dem amerikanischen Raum. In England wurde „Cancel Culture” im Fall J. K. Rowling stärker diskutiert, in Deutschland im Rahmen der Absagen der Vorstellungen bzw. Präsentationen von Lisa Eckhart und Dieter Nuhr und im universitären Raum beispielsweise um die Attacken auf den Politologen Herfried Münkler in Berlin und den früheren AfD-Chef Bernd Lucke in Hamburg. Manchmal wird „Cancel Culture” auch mit der Frage nach dem Umgang mit historischen Monumenten aus der Perspektive des Postkolonialismus und der Forderung nach geschlechtergerechter Sprache in Verbindung gebracht. „Cancel Culture” kann also für vieles stehen. Ich würde sagen, dass es sich bei „Cancel Culture” im engeren Sinne um Bestrebungen handelt, öffentliche Bühnen zu reglementieren. Diese Reglementierung findet dabei nicht durch die Verantwortlichen statt, sondern durch diejenigen, die Druck auf Veranstalterinnen und Veranstalter ausüben, die Bühne nicht für diese oder jene Veranstaltung zu öffnen. Damit sind vor allen Dingen aber auch diejenigen betroffen, die auch mit guten Gründen an der Veranstaltung teilnehmen wollen, aber nicht gefragt werden.

Verändert „Cancel Culture” unsere Sprach- und Debattenkultur?

Was wir unter „Cancel Culture” verstehen, besteht in gewissem Sinne in „Culture Cancelling”. Es wird versucht, Einfluss auf Bühnen zu nehmen, auf denen Öffentlichkeit entsteht und die sehr unterschiedlich sind: Theaterbühnen, Hörsäle, Zeitungen, Bierzelte, Kirchen. Wenn wir diese Unterschiede nicht mehr machen, dann wird aus der „Cancel Culture” tatsächlich so etwas wie ein „Culture Cancelling”. Zu einer gelingenden Debattenkultur gehört das, was Kant als Denken an der Stelle des anderen beschreibt. Das heißt, nicht nur meine Position als die universale zu postulieren, sondern sie immer mit Blick auf andere Positionen zu relativieren. Das ist ein profundes Erbe der Aufklärung. Wenn wir das nicht mehr zulassen, dann würden wir mit einer Monopolisierungstendenz in der öffentlichen Meinungsbildung konfrontiert und das würde eine aufgeklärte Gesellschaft ins Wanken bringen. 

Sehen Sie „Cancel Culture” also als eine Gefahr für die Meinungsfreiheit und für den demokratischen Diskurs?

Ich glaube, wir haben in unserer westlichen Kultur und speziell hier in Deutschland kein Problem mit der Meinungsfreiheit im juristischen Sinn. Denn in einem juristischen Sinne müsste man fragen: Wenn es hier nicht möglich ist zu publizieren oder etwas zu sagen, ist es an einer anderen Stelle möglich? Und das ist uns durch die verschiedenen Publikationsmöglichkeiten in einem ganz weiten Sinn gegeben. Das Problem der „Cancel Culture” scheint mir eher ein profundes Problem der Meinungsbildung zu sein. Meinungsfreiheit setzt freie Meinungsbildung voraus. Und dafür müssen sich Meinungen der Debatte stellen und andere Positionen auch zulassen. 

„Es gehört dazu, solche Zwischenräume und Alternativen offenzulassen, Meinungen und Positionen auszuhalten, die einem widerstreben, und nicht jede Debatte unter das Diktat einer Entscheidung zu stellen.“

Wie bewerten Sie den Wandel der Debattenkultur insgesamt? 

Aufgrund der technischen Entwicklungen sind die Möglichkeiten, an Debatten teilzunehmen, gewachsen. Technische Beschränkungen sind weggefallen und größere Freiheitsräume wurden durch neue Medien und Formate eröffnet. Die klassische Kehrseite von Freiheit besteht darin, mit der Freiheit adäquat umzugehen. Das bedeutet, dass größere Selbstverpflichtungen vorausgesetzt werden, die nicht mehr durch Institutionen abgenommen werden. Es ist nicht nur zwischen News und Fake News von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Debatten zu unterscheiden, in der gesellschaftlichen und politischen Debatte gibt es auch Zwischenräume, graue Felder, die sich aus verschiedenen Perspektiven ergeben. Es gehört dazu, solche Zwischenräume und Alternativen offenzulassen, Meinungen und Positionen auszuhalten, die einem widerstreben, und nicht jede Debatte unter das Diktat einer Entscheidung zu stellen. Das scheint mir wirklich eine Krux zeitgenössischer Debatten zu sein, dass man auf das eine richtige Ergebnis beharrt, das aus der Debatte resultieren und umgesetzt werden muss. Ich glaube, ein großes Verdienst von öffentlichen Debatten besteht in der Aporieoffenheit, dass es also auch Debatten gibt, die nicht mit einem endgültigen Ergebnis beendet werden, sondern von denen wir sagen, dass es kein absolut richtiges oder falsches Ergebnis gibt, weil die Sache kompliziert ist und wir mit aufgeklärter Offenheit auch gut leben können.

Positionen

Prof. Dr. Christian Bermes forscht und lehrt am Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau. Aktuell arbeitet er an einem Forschungsprojekt zur Bedeutung von Meinungen.

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