Worauf führen Sie diese Tendenzen zurück?
Die Polarisierung hat in Politik und Gesellschaft in den letzten Jahren im Zuge der Euro-, Finanz- und Flüchtlingskrise zugenommen. Das gilt sowohl für das rechte als auch linke politische Spektrum. Zur Veränderung haben besonders die sozialen Medien beigetragen. Sie funktionieren nach den Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie. Banalitäten können Riesenwellen entfachen. Das bleibt für den wissenschaftlichen Diskurs nicht folgenlos. Die bloße Äußerung einer inopportun erscheinenden wissenschaftlichen These kann innerhalb kürzester Zeit zu einem Shitstorm führen, der geradezu existenzvernichtend werden kann. Das wäre zuvor in dieser Form und diesem Tempo nicht möglich gewesen. Zusätzlich spielt noch eine weitere internationale Entwicklung mit hinein: Vor allem in den USA hat sich eine Zuspitzung und Verengung des wissenschaftlichen Diskurses entfaltet. Das ist nunmehr auch nach Europa übergeschwappt. In der Annahme einer engen Verbindung von Sprache, Denken und Handeln propagieren meinungsstarke Gruppierungen Sprachreglementierungen, mit denen Positionen und der Gebrauch bestimmter Worte und Redewendungen geächtet werden sollen. Wissenschaftler*innen sollten sich gemeinsam gegen solche Bevormundungsversuche wehren.
Zuletzt hat sich das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit” mit rund 70 Wissenschaftler*innen gegründet, um Forschung und Lehre gegen ideologische Einschränkungen zu verteidigen. Wie bewerten Sie dies?
Die Gründung des Netzwerks bestätigt das Unbehagen, das der Deutsche Hochschulverband als einer der ersten artikuliert hat. Das Netzwerk ist kein Konkurrent, sondern ein willkommener Mitstreiter, der mit dem Deutschen Hochschulverband gemeinsam für eine von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur an den Universitäten eintreten wird.
Themen wie Gender, Flüchtlingsproblematik, Klimawandel oder Corona sind nur einige Beispiele für aktuelle und kontroverse Diskussionen. Wie sollten denn diese Themen Ihrer Ansicht nach diskutiert werden?
Kontroverse Meinungen müssen in der Wissenschaft im Allgemeinen und an der Universität im Besonderen respektiert und ausgehalten werden. Differenzen, die zu Andersdenkenden bestehen, sind im argumentativen Streit auszutragen, nicht durch Boykott oder Mobbing. Das heißt zum Beispiel, dass es selbstverständlich möglich sein muss, darüber zu diskutieren, ob das Geschlecht ausschließlich ein soziales Konstrukt ist und inwieweit biologische Faktoren vielleicht doch eine wichtige Rolle spielen. Solche wichtigen und spannenden Diskurse müssen aber stets in voller Breite und ergebnisoffen geführt werden können. Es darf keine Scheuklappen geben, die den Diskurs von Vornherein verengen, denn dadurch verarmt Wissenschaft, und es wird Erkenntnisfortschritt gelähmt.
Zur Verengung der Debattenkultur gehört leider, dass die Diskussionen weniger um Sachfragen als um Personen kreisen. Personen werden diskreditiert, wenn sich ihre Thesen nicht mehr im vermeintlichen „Mainstream“ des Diskurses bewegen. Das ist fatal.