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„Man muss immer wieder aufs Neue diskutieren“

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Marlis Prinzing

Sie sind Kommunikationswissenschaftlerin, Buchautorin, Kolumnistin, Moderatorin,… woran machen Sie fest, ob ein Thema (immer noch) relevant und berichtenswert ist? 

Relevanz meint Bedeutsamkeit. Im Journalismus meint Relevanz, dass ein Ereignis oder ein Aspekt oder die Entwicklung eines Ereignisses bedeutsam für die Öffentlichkeit und damit berichtenswert ist. Für die Relevanz von Forschung ist bedeutsam, dass ein so noch nicht vorhandener, analytischer Blick auf eine Thematik geworfen wird. Bedeutsamkeit kann also unterschiedliche Facetten haben, die sich nicht ausschließen müssen: Ein Thema kann z.B. berichtenswert für die Öffentlichkeit sein oder eine Forschungslücke schließen. Die Richtung ist klar, doch es ist im Einzelfall gar nicht so einfach zu entscheiden, was denn nun genau relevant ist. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der wir leben, gibt es keine Instanz, die verbindlich festlegt, was genau Relevanz hat oder erklärt:  „Das ist jetzt wichtig und bedeutsam” und „Darüber muss jetzt debattiert werden”. Es gib immer Bandbreiten, bezogen auf den, der eine Debatte anstößt, ebenso wie bezogen darauf, was ein Publikum jeweils für sich selbst als bedeutsam ansieht und definiert.

Was bedeutet das für journalistische Medien?

In der Kommunikationswissenschaft wurden zur Kategorisierung der Relevanz und auch zu deren Messung Faktoren definiert. die einen Nachrichtenwert bestimmen. Sie liefern Hinweise auf die Aspekte, denen Journalistinnen und Journalisten folgen, wenn sie Informationen den Wert zuschreiben, als Nachricht veröffentlicht zu werden und damit von öffentlicher Bedeutung zu sein. Das wird schon sehr lange untersucht. Walter Lippmann war einer der Ersten, der solche Kataloge von Auswahlkriterien erstellt hat, das liegt rund hundert Jahre zurück. Sehr systematisch und wissenschaftlich gemacht haben das dann in den 60er Jahren Johan Galtung und Marie Holmboe Ruge. Es gibt sehr viele sehr unterschiedliche Faktoren, aber auch welche, die immer wieder aufgezählt werden. Auf diese Faktoren lässt sich anhand zentraler Fragen zielen: „Ist das Ereignis in der Nähe passiert?”, „Hat das Thema einen hohen Nutzen oder ein ganz hohes Schadenspotenzial für die Allgemeinheit?”, „Ist es etwas, dass sich generell recht gut über Personen erzählen lässt?“ oder „Sind bestimmte prominente Personen (Eliten) betroffen?“ Das können gesellschaftliche Eliten sein, aber auch Elite-Nationen. In Deutschland ist etwas, das in den USA passiert, rasch bedeutsam, weil die USA für Deutschland eine Elite-Nation sind, anders als wenn dasselbe z.B. in Namibia oder in Finnland oder in Usbekistan geschieht. Menschen an den Schalthebeln der Macht haben ebenfalls großen Nachrichtenwert, aber auch Kontroversen, Konflikte, total Skurriles, Überraschendes. Das ist allerdings kein fester Katalog, über den sich in Forschung und Praxis alle einig sind. Für den Journalismus geht es darum, solche Faktoren zu kennen. Denn das hilft bei der Einschätzung, warum man etwas als relevant betrachtet. Neben dieser externen Relevanz gibt es auch eine Art redaktionsinterne Relevanz, also Faktoren, die entscheidend sind beim „Themenpitch“ in der Redaktionskonferenz, wenn man „sein Thema“ durchsetzen will: Ein ungewöhnlicher Zugang, ein guter Draht zur Ressortleiterin etc.

Gibt es „typische” Anzeichen für ein absehbares bzw. baldiges Ende einer Debatte? 

Zwei Hauptpunkte sind wichtig. Eine Debatte endet zum einen dann, wenn ein Thema erschöpft ist, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Argumente ausgetauscht sind und man den Eindruck hat, es sei entweder eine Einigung erzielt oder ein Sachverhalt zur Entscheidungsreife gebracht, zum Beispiel in einer Parlamentsdebatte.  Dann ist die Debatte zumindest für den Moment oder eine bestimmte Phase zu Ende. 

Die andere Art eines Debatten-Endes entsteht oft dann, wenn einzelne Teilnehmende oder eine Gruppe von Teilnehmenden die Regeln missachten. Infolgedessen rückt die Überlegung in den Vordergrund, inwiefern man klüger diese Debatte beendet, weil sie beispielweise Gefahr läuft in einen reinen Schlagabtausch zu kippen. Dann ringen die Beteiligten oft nicht mehr anhand von Argumenten um Positionen, sondern es entstehen vielfach zweierlei Gruppen: Die einen attackieren, greifen an – unsachlich, auf der emotionalen Ebene; wer sich so verhält, verletzt die Debattenregeln. Solches Verhalten treibt die anderen in die Enge, sie gewinnen den Eindruck, sie können sagen was sie wollen, es wird nichts als Argument akzeptiert, sondern nur mit Vorwürfen gearbeitet. Kurz gesagt: Eine Debatte endet meistens dann, wenn sie als destruktiv und nicht mehr zielführend empfunden wird oder wenn das Thema wirklich erschöpft ist und es zu einer Einigung, einer Abstimmung oder einem vorübergehenden Zwischenstand kommt.

Gibt es etwas dazwischen?

Man kann entgleitende Debatten durch eine kundige und umsichtige Moderation mitunter auf ein konstruktives Feld zurückführen. Das setzt aber voraus, dass alle Seiten dazu beitragen, dass Debatten gelingen. Zum Beispiel kann bei einer sehr starken emotionalen Betroffenheit auch helfen, auf die Metaebene zu wechseln und bei den Beteiligten nachfragen, worin eigentlich ihre Wut auf das Gegenüber begründet liegt.

Was genau ist eigentlich eine „Debatte”?

Eine Debatte zielt darauf, andere von der eigenen Position zu überzeugen; eine Diskussion hingegen kann auch nur ein Austausch sein. Eine Debatte ist ihrem Wesen nach ein Streitgespräch, das in aller Regel festen und mitunter sogar in einer Geschäftsordnung niedergelegten Regeln folgt. Sie endet teils mit einer Abstimmung oder – häufig bei Podiumsdiskussionen – mit einem momentanen Fazit, kann aber auch lange dauern. Wissenschaftliche Kontroversen sind hierfür Beispiele; man debattiert, forscht weiter, analysiert, dockt daran bei einer nächsten Konferenz eine weitere Debatte an und gelangt letztlich auf diesem Weg und über die Zeit hinweg auch zu immer wieder neuen Erkenntnissen.

„Zum Beispiel kann bei einer sehr starken emotionalen Betroffenheit auch helfen, auf die Metaebene zu wechseln und bei den Beteiligten nachfragen, worin eigentlich ihre Wut auf das Gegenüber begründet liegt.“

Wenn man jetzt von dem Szenario ausgeht, dass man zu einer Einigung oder einer Abstimmung nach einer Debatte gekommen ist. Bedeutet das dann gleichzeitig, dass das Thema gesellschaftlich nicht mehr relevant ist? 

Nicht zwingend. Ein Thema kann auch nur vorübergehend ausdiskutiert sein. Im journalistischen Kontext kann ein Thema auch abgelöst werden durch eine Debatte, die momentan eine aktuellere gesellschaftliche Relevanz hat. Deswegen ist sie trotzdem nicht für alle Zeiten abgeschlossen. 

Also können Debatten nach einem „vermeintlichen” Ende wieder aufgenommen werden?

Ja. Beispiele dafür sind Debatten über Terrorismus, über Rassismus oder auch über globale Erwärmung. Man erreicht einen bestimmten Diskussionsstand, aber dann passiert irgendetwas von aktueller oder akuter Relevanz, z.B. eine Naturkatastrophe, oder eine neue brisante Studie kommt heraus. Da kann es gut sein, dass die vorherige Debatte wieder startet. Die Debatte über Rassismus zum Beispiel kommt immer wieder auf. Die Tötung von George Floyd im Sommer 2020 brachte sie unter einem bestimmten Fokus – z.B. Binnenstruktur der Polizei, generelle gesellschaftliche Spaltung – wieder neu auf die Debatten-Tagesordnung. Oft enden solche Debattenphasen mit neuen Erkenntnissen, die man vorher so noch nicht hatte. 

Fallen Ihnen konkrete Beispiele für eine ausdiskutierte Debatte ein?

Man hat immer mal wieder den Eindruck, dass zu einem bestimmten Thema nun wirklich alles gesagt ist. Ein Beispiel ist die Gender-Thematik, speziell die Debatte über gendergerechte Sprache. Doch dann lernt man immer wieder, dass das nicht so ist, man immer wieder aufs Neue diskutiert muss und nicht ungeduldig werden darf. 

Das kann mehrere Gründe haben. Vielleicht hat man selber in diversen Runden darüber gesprochen und sich ausgetauscht, in denen aber andere gar nicht waren, für die auch deshalb noch nicht alles gesagt ist. Oder die sich mit einer Übereinkunft, die sie aber nicht teilen, einfach nicht abfinden wollen und immer wieder neu darauf ansprechen, wohl auch, um das Gegenüber mürbe zu machen. 

Zuweilen kommt hier auch die Relevanz als Faktor ins Spiel. Es ist eigentlich alles Relevante gesagt, aber dennoch wird weiter diskutiert und auch debattiert. Beispiele findet man teils in der Berichterstattung über Skandale, etwa im Fall des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff. Die Debatte ging im Kern um das durchaus relevante Thema, welche Vorteile sich ein Spitzenpolitiker verschaffen darf. Irgendwann war der Zeitpunkt erreicht, dass zwar die Argumente auf dem Tisch lagen, aber insbesondere Medien trotzdem weiter die Debatte befeuerten sowie immer neue Details suchten und präsentierten bis hin zur Frage, ob Wulff das Spielzeugauto seines Sohns selbst bezahlt hat. 

Tragen Journalist*innen hier eine besondere Verantwortung?

Professioneller Journalismus organisiert ganz wesentlich die gesellschaftliche Debatte und gibt ihr Raum. Deshalb trägt er eine hohe Verantwortung. Dazu gehört, selbstreflexiv zu überlegen, wie relevant es ist, eine Debatte zu einem bestimmten Zeitpunkt noch fortzuführen oder ob das Thema für den Moment erledigt ist. Es kann zum Beispiel sein, dass zu einem anderen Zeitpunkt die Vorteilsnahme durch Politiker*innen wieder ein Thema sein wird. Aber irgendwann einmal war es für die Causa Wulff zu Ende erzählt. Es gehört zur Professionalität dazu, dass man eine Debatte beenden kann. Ansonsten würden in politischen Gremien nie Abstimmungen erfolgen und die Leute würden Tag und Nacht weiter debattieren. 

„Wir müssen lernen, besser zu streiten. Und zwar nicht im Sinne von „Ich will siegen, ich bin die Beste”, sondern wirklich zu lernen, wie halte ich auf argumentativer Ebene dagegen und nicht, wie würge ich jemanden mit meinen Statements ab.“

Das heißt Sie sehen es erster Linie die Medien in der Rolle, Debatten zu beenden?

In ihrem Einflussbereich, sonst aber natürlich nicht. Medien können z.B. keine Parlamentsdebatte beenden. Aber dort, wo sie die Verantwortung haben für die öffentliche Debatte, können sie auch vorleben, wie eine Debatte konstruktiv beendet wird. Das gehört zur Streitkultur – mit Betonung auf „Kultur“. Gemeint ist: Wir müssen lernen, besser zu streiten. Und zwar nicht im Sinne von „Ich will siegen, ich bin die Beste”, sondern wirklich zu lernen, wie halte ich auf argumentativer Ebene dagegen und nicht, wie würge ich jemanden mit meinen Statements ab. Was man durch die Netzkommunikation und durch viele hässliche Diskurse, die es insbesondere in Sozialen Medien gibt, deutlich sieht, ist, dass wir streiten lernen müssen. Dazu gehört es auch, nicht immer nur weiter zu bohren und zu bedrängen, sondern eine Debatte sachgerecht zu beenden. 

Gibt es eine Debatte, die sie derzeit für besonders bemerkenswert halten?

Ich möchte darauf antworten mit dem Hinweis auf die anhaltend unterschiedliche Wahrnehmung debattierender Frauen. Sie stützt sich auf zahlreiche Studien. Hier ein Beispiel: Die vor kurzem verstorbene Supreme Court Richterin in den USA, Ruth Bader Ginsburg, war wirklich eine Frau, die sich Respekt und Gehör zu verschaffen wusste. Aber es lässt sich belegen, dass sogar sie in den Verhandlungen am obersten Gericht dreimal häufiger unterbrochen wurde als die männlichen Kollegen. Ebenso ist belegt: Männern wird für die gleiche Idee in einer Debatte eher applaudiert als Frauen; redselige Männer werden positiver wahrgenommen als redselige Frauen. Und: Sogar Frauen unterbrechen eher Frauen als dass sie Männer unterbrechen. Hinzu kommen weitere Phänomene, derer man sich bewusst sein muss: Dass niemand reagiert, wenn man als Frau etwas sagt, auch als Silencing bezeichnet; dass Männer auch gerne versuchen Frauen zu belehren, was auch Mansplaining genannt wird. 

All dies sind wichtige Ansatzpunkte, um die Debattenkultur zu verbessern. Der erste Schritt ist, diese Phänomene zu sehen und zu benennen. Von da an wird es einfacher, mit ihnen konstruktiv in einer Debatte umzugehen und dagegenzuhalten. Hier sind wir wieder bei einem Thema von vorhin: Eigentlich sollten wir längst nicht mehr über solche Punkte sprechen müssen. Und wenn zudem Frauen dieses Thema ansprechen, lösen sie oft ein Augenrollen aus, Männer selbst thematisieren das ohnehin selten. Ich erinnere mich an eine Studie, die untersucht hat, wie eine Gruppe zusammengesetzt sein muss, damit beide Geschlechter mal gleichberechtigt gehört werden. Der Befund war: erst dann, wenn eine Gruppe zu 80 Prozent aus Frauen besteht, werden beide Äußerungen gleichgewichtig bewertet. Ist das nicht krass?

Positionen

Prof. Dr. Marlis Prinzing ist Professorin für Journalistik und Studiendekanin am Campus Köln der Hochschule Macromedia

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