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Zusammenbruch oder Chance?

Über die Auswirkungen eines Gas-Embargos auf die deutsche Wirtschaft

Bei einem Importstopp russischen Gases drohen Deutschland „gesamtwirtschaftliche Schäden schwersten Ausmaßes“, warnt Wirtschaftsminister Robert Habeck zuletzt nach Beratungen der Energieministerien von Bund und Ländern. Unter Wirtschaftsexpert*innen ist diese Aussage umstritten.

„Niemand weiß genau, was ein plötzlicher Lieferstopp konkret für die deutsche Wirtschaft bedeuten würde“, sagt Professor Dr. Hubertus Bardt, Geschäftsführer und Leiter des Wissenschaftsbereichs am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln. Die deutsche Industrie verbraucht 36 Prozent der gesamten Gaslieferungen. Hinzu kommen Gewerbe und Handel, die Gas zum Beispiel für das Heizen von Bürogebäuden, Werkstätten und Verkaufsflächen einsetzen. Der gasintensivste Industriezweig ist mit 30 Prozent des Verbrauchs die Chemiebranche, mit 20 Prozent folgt die Metallerzeugung. „Wir haben ja auch so stark auf Gas gesetzt, weil wir von der Kohle weg wollten“, sagt Bardt. Gasturbinen haben vielerorts die Wärmerzeugung durch Kohle abgelöst. Nun werden auch sie zum Problem.

„Wir stehen vor einer potentiellen Schocksituation, die wir so nie zuvor hatten.“

Prof. Dr. Hubertus Bardt, Geschäftsführer und Leiter Wissenschaft am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln

Bardt gehört zu jenen, die Habecks Einschätzung teilen. „Wir stehen vor einer potentiellen Schocksituation, die wir so nie zuvor hatten.“ Er rechnet im Ernstfall in zahlreichen Branchen mit Produktionsausfällen, die wiederum eine Kettenreaktion nach sich ziehen würden. Wenn die gasabhängige Chemieindustrie zum Beispiel Chemikalien nicht mehr fertigen kann, fehlen diese für die Herstellung von Folgeprodukten. 

Lässt sich Gas in den Betrieben kurzfristig ersetzen? Nein, sagt er, „zumindest nicht genug. Es sind riesige Mengen, die im Ernstfall substituiert werden müssten.“ In vielen Anlagen ist auf die Schnelle weder ein Herunterfahren noch der Umstieg auf andere Energieformen möglich. Zum Beispiel in der Glasproduktion. „Dort müssen die Anlagen permanent, rund um die Uhr laufen, um eine gewissen Temperatur zu halten. Wenn man sie abrupt herunterkühlt, sind sie nachhaltig beschädigt.“

Die Chemiebranche benötigt Gas auch zur Herstellung von Stoffen, beispielsweise von Dünger. In diesen Prozessen lässt Gas sich gar nicht ersetzen. Ammoniak besteht aus Stickstoff und Wasserstoff, der wird aus Erdgas gewonnen. In der Gasknappheit explodieren daher die Düngerpreise, mit ihnen steigen die Kosten für Nahrungsmittel.

 „Die Gefahr ist da, wir müssen uns wappnen. Die Frage ist, wie lange man so ein Importstopp durchhalten würde.“

Prof. Dr. Hubertus Bardt, Geschäftsführer und Leiter Wissenschaft am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln

Mehr Energie aus Kohle, mehr Gas aus Norwegen und Flüssiggas aus Katar könnten den Ausfall nur teilweise ausgleichen. „Energieautark werden wir nicht werden“, sagt Bardt. Aber die Risiken von Abhängigkeiten ließen sich minimieren, wenn man in Zukunft auf verlässliche Partner baut.  

Das Szenario, dass über Nacht die russischen Lieferungen eingestellt werden oder Deutschland ein Importstopp verhängt, sieht Bardt im Bereich des Möglichen. „Die Gefahr ist da, wir müssen uns wappnen. Die Frage ist, wie lange man so ein Importstopp durchhalten würde.“ Wenn Werke ihre Produktion herunterfahren müssen, drohten Kurzarbeit, Entlassungen oder gar die Schließung ganzer Produktionsanlagen. „Schwierig wird es, wenn mit dem Ausfall von Gas ganze Produktionsketten stillgelegt werden, weil die Ersatzmöglichkeiten auch für die Zwischenprodukte begrenzt sind.“ Wo genau Lieferketten reißen, kann niemand genau sagen. Hier stoßen auch die Modelle an ihre Grenzen.

Im Notfall haben zudem zunächst die Verbraucher*innen Anrecht auf die Versorgung mit Strom und Wärme. „Die Haushalte sind die besser geschützte Gruppe“, so der Experte. Fast die Hälfte heizt mit Erdgas. Dann erst kommt die Industrie. Sie würde daher als erstes abgeschaltet. „In welcher Reihenfolge, oder auch welche Branchen ausgenommen würden, dafür gibt es keinen Plan“, sagt Bardt.

Als arbeitgebernahes Institut zeichnen die Wissenschaftler*innen des IW die Konsequenzen für die Industrie schwärzer als andere Forschende. Die Nationale Akademie der Wissenschaft Leopoldina stellte im Gegensatz dazu jüngst einen Ausstieg aus russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft als verkraftbar dar. Engpässe im kommenden Winter könnten durch ein Maßnahmenpaket abgefedert werden, unter anderem durch die Einfuhr von Flüssiggas und einer stärkeren Kohleverstromung.

„Wir stünden ja selbst bei einem Embargo nicht ohne Gas da.“

Prof. Dr. Moritz Kuhn, Professor für Wirtschaft an der Universität Bonn und Co-Autor der ECONtribute Studie

Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch die ECONtribute Studie der Universitäten Bonn und Köln. Sie rechnet mit einem recht moderaten Absinken des Bruttoinlandsproduktes BIP zwischen 0,5 und drei Prozent. Wirtschaft und Verbraucher*innen könnten einen Lieferstopp von russischem Gas also durchaus verkraften, meinen die Autor*innen und verweisen auf die Corona-Pandemie. Sie ließ die deutsche Wirtschaft 2020 vorübergehend um 4,5 Prozent schrumpfen.

Warum malen andere so viel schwärzer? „Wir stünden ja selbst bei einem Embargo nicht ohne Gas da“, nennt der Mitautor der Studie Professor Dr. Moritz Kuhn einen Grund für seine positivere Einschätzung. Rund die Hälfte des in Deutschland verbrauchten Gases komme eben nicht aus Russland, die fehlende Hälfte wäre zumindest zum Teil abzufedern. Zum einen brauchen Haushalte im anstehenden Frühling und Sommer weniger Gas zum Heizen. Dies steht der Industrie dann für kritische Bereiche zur Verfügung. Bis zum nächsten Winter muss dann genügend Ersatz für das russische Gas aufgetrieben, Einsparungen und Umstellungen müssen umgesetzt werden, so dass bis dahin der Energiebedarf zusätzlich sinken werde, schreiben die Autor*innen. 

„Wenn Birnen zu teuer werden, kaufe ich eben Äpfel.“

Prof. Dr. Moritz Kuhn, Professor für Wirtschaft an der Universität Bonn und Co-Autor der ECONtribute Studie

„Wir wissen aus Fallstudien, dass Unternehmen und Haushalte in der Lage sind, sich anzupassen“, sagt Moritz Kuhn. Die Erfahrung zeige grundsätzlich, dass Verbraucher*innen und Unternehmen bei steigenden Preisen Alternativen wählen. Sie drehen die Heizung herunter, fahren weniger Auto, verbessern die Wärmedämmung, bauen effizientere Anlagen ein. „Wenn Birnen zu teuer werden, kaufe ich eben Äpfel“, fasst Kuhn das Prinzip in ein Bild. Substitution nennen dies Ökonomen. Wenn das Benzin zu teuer wird, fahren Menschen tendenziell eher Fahrrad oder verkaufen gar ihr Auto.

Es wäre kontraproduktiv, den Handlungsdruck, der durch hohe Energiepreise entsteht, durch finanzielle Hilfe vom Staat zu senken, sagt Kuhn. Denn dann verpufft er. Er plädiert dafür, nur den sozial Schwächsten finanziell während der Krise unter die Arme zu greifen. Bis zum nächsten Oktober müssten Wege gefunden werden, so viel wie möglich des Gases aus Russland zu ersetzen. Dann werden die Heizungen wieder angeworfen.

„Geht nicht, heißt, will nicht“, entgegnet er den Einwänden gegen ein Importstopp. Der Ökonom ist überzeugt, dass eine solche Krisensituation ungeahnte Potentiale freisetzen kann, vorausgesetzt, man stellt sich der Herausforderung. „Wer hätte vor zwei Jahren gedacht, dass wir so schnell einen Impfstoff entwickeln können?“ Oder, dass Tesla innerhalb von zwei Jahren ein Werk in Brandenburg eröffnet. Kuhn wünscht sich schnellere Genehmigungsverfahren auch im Bau von Terminals für Flüssiggas sowie mehr unternehmerisches Risiko.

„Wir brauchen eine positive Sichtweise und schnelle Anpassungen.“ Deutschland hat sich ohnehin verpflichtet, zur Erreichung des Klimazieles seine Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren und langfristig zu beenden. Nun muss dies eben im Turbogang geschehen. „Das ist doch eh die Richtung, in die wir wollen.“

Fest steht auch, dass es nicht allein in Deutschlands Hand liegt, eine Entscheidung zu treffen. Sollte Russlands Präsident Putin von seiner Seite aus die Lieferungen stoppen, muss die Industrie sofort anfangen mit Hochdruck umzustellen. Unabhängig davon, ob Wirtschaftsexpert*innen, Politiker*innen und Unternehmen das eigentlich für unmöglich halten. 

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