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„Die Situation für den Winter bewerte ich als kritisch.“

Ein Gespräch mit Prof. Dr.-Ing. Thomas Kolb

Was würde es für die Energieversorgung in Deutschland bedeuten, wenn Deutschland kein Erdgas und Erdöl mehr aus Russland importieren würde?

Etwa 55 Prozent des Erdgases und etwa 42 Prozent des Erdöls werden aus Russland importiert. Wenn man sich die Bedarfssituation der Primärenergie in Deutschland anschaut, bedeutet das, dass mit einem Lieferstopp etwa ein Viertel unserer Primärenergie von einem Tag auf den anderen nicht mehr verfügbar wäre. Daher ist es schwer vorstellbar, dass man das kurzfristig kompensieren könnte und die zu erwartenden Auswirkungen für Verbraucher*innen und die Industrie wären erheblich.

Inwieweit würde in einem solchen Fall auf bestehende Reserven zurückgegriffen werden können?

Die Bundesregierung hat eine strategische Reserve für Öl, die etwa 25 Prozent des durchschnittlichen Jahresbedarfs beträgt. Erst kürzlich wurden Teile der Reserven freigegeben um den Preis zu stabilisieren. Zu einer unmittelbaren Knappheit an Erdöl würde es also wahrscheinlich nicht kommen. Wichtig ist aber, dass wir nicht kurzfristig denken, sondern die längerfristige Perspektive berücksichtigen, weil die Reserven natürlich nur für einen sehr begrenzten Zeitraum ausreichen.

Wie steht es um die aktuellen Erdgasreserven in Deutschland?

Bei Erdgas ist es so, dass wir große Gasspeicher haben, die in der Lage sind, Erdgas für ein Viertel des Jahresbedarfs zu speichern. Typischerweise sind die Speicher im Sommer voll und werden dann über die Winterzeit entleert. Mit Ende des Winters sind die Gasspeicher aktuell nur zu 27 Prozent gefüllt – das entspricht mengenmäßig also etwa dem durchschnittlichen Erdgasverbrauch eines Monats. Allerdings ist der Erdgasverbrauch im Winter etwa dreimal so hoch wie im Sommer, da im Sommer deutlich weniger geheizt wird, so dass für die Versorgung in den kommenden Monaten für die Verbraucher*innen keine unmittelbaren Engpässe zu erwarten wären. Allerdings müssten die Speicher bis zum Herbst gefüllt werden und dann müssten auch ausreichende Importe aus anderen Quellen für den Winter verfügbar sein.

„Das bedeutet im Ergebnis, dass beim Erdöl mit erheblichen Preisanstiegen zu rechnen ist, da Deutschland in direkte Konkurrenz mit anderen Staaten bezüglich der verfügbaren Ölmengen tritt.“

Und was wäre die naheliegendste Alternative zum russischen Erdgas?

Mögliche Alternativen für russisches Erdgas sind noch schwieriger, weil Gas nach Deutschland über Pipelines geliefert wird und wir daher deutlich abhängiger von einer Transportinfrastruktur ist. Verstärkte Lieferungen von den europäischen Quellen müssen geprüft werden, die naheliegende Alternative zu russischem Erdgas ist LNG – also Liquified Natural Gas. Davon ließe sich eine gewisse Menge auf dem Weltmarkt dazukaufen, aber dafür braucht es eben die entsprechende Infrastruktur. Die Terminals zur Entladung und Einspeisung in die Pipelines sind in Deutschland noch überhaupt nicht vorhanden und sollen erst gebaut werden. Daher müsste man auf andere Terminals in Europa mit Pipelineverbindung nach Deutschland zurückgreifen. Die Terminals in den Niederlanden sind allerdings zu etwa 90 Prozent ausgelastet, so dass sich hierüber kaum große Mengen abwickeln ließen. Aus Frankreich und Italien besteht ebenfalls ein recht gut ausgebautes Pipeline-Netzwerk nach Deutschland und dort sind die Terminals aktuell nur zu etwa 50 Prozent ausgelastet. Auch wenn die Bundesregierung zuletzt 1,5 Milliarden Euro für den Ankauf von LNG bereitgestellt hat, ist aber klar, dass man damit anderen Nutzern Kapazitäten wegnähme und somit ebenfalls in Konkurrenz mit anderen Staaten träte – hier braucht es meiner Meinung nach eindeutig eine europäische Lösung.

Sie sprachen auch von den Auswirkungen eines Lieferstopps für die Verbraucher*innen. Welche konkreten Auswirkungen wären das?

Die Energie- und Benzinpreise würden weiter stark ansteigen, wenn ein Lieferstopp kommt. Wir erleben ja schon jetzt einen gravierenden Preisanstieg, ohne dass aktuell ein Lieferstopp für russische Energieimporte besteht. Und mit Blick auf die Alternativen wissen wir, dass durch knappe Ressourcen der Preis deutlich nach oben getrieben werden würde. Mit Blick auf den Herbst und den Winter lässt sich das gar nicht seriös einschätzen, wie teuer das Heizen für jeden einzelnen wäre.

„Zuhause die Heizung runterdrehen und weniger Autofahren sind beides Maßnahmen, bei denen man als Verbraucher*in direkt ansetzen kann und einen Beitrag zur Reduzierung der Importabhängigkeit leisten kann.“

Welchen Einfluss hätten energiesparende Maßnahmen wie beispielsweise der Verzicht auf das Auto oder das geringere Heizen, um die Menge an benötigter Energie zu reduzieren?

Natürlich gibt es Einsparpotentiale, wenn beispielsweise zuhause die Heizung runtergedreht wird – aber für den Sommer ist das marginal. Für den Winter ist schon ein größeres Potential gegeben. Weniger Autofahren könnte direkt einen relevanten Effekt auf die benötigten Energiemengen jedes Einzelnen haben. Zumindest sind das beides Maßnahmen, bei denen man als Verbraucher*in direkt ansetzen kann und einen Beitrag zur Reduzierung der Importabhängigkeit leisten kann.

Wie stark ist die deutsche Industrie abhängig von Erdgas und welche Industriezweige ganz besonders?

Insgesamt geht etwa ein Drittel des gesamten Erdgasverbrauchs in Deutschland in die Industrie. Den größten Erdgasbedarf haben die chemischen Industrie, die Metallindustrie und die Mineralölindustrie. Dazu muss man wissen: Die Industrie hat zwei unterschiedliche Nutzungspfade für Erdgas: Die energetische Nutzung zur Erzeugung von Prozesswärme durch Verbrennung und die stoffliche Nutzung für Prozesse insbesondere in der chemischen Industrie. Die energetische Nutzung lässt sich mit großem Investitionsaufwand mittel- bis langfristig durch erneuerbare Energien ersetzen, bei der stofflichen Nutzung ist das nur begrenzt durch den Einsatz von Biomasse und Recyclingströmen möglich. Technisch gibt es kurzfristig – und hier spreche ich über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg – für der Ersatz von Erdgas in der Industrie keine Alternativen. Ohne die Zufuhr von der bisherigen Menge an Erdgas müsste eine Vielzahl an Industrieprozessen gedrosselt werden.

Was würde das konkret für die Produktion bedeuten?

Wenn eine Produktionsstätte in der Chemieindustrie oder der Metallindustrie beispielsweise weniger Erdgas zur Verfügung hat, dann muss die Produktion gedrosselt werden. Und das gilt in ganz vielen Bereichen: jeder Kunststoff, jede Farbe basiert auf Kohlenstoff, der ganz überwiegend aus Erdgas oder Erdöl gewonnen wird. 

Plant die Politik konkrete Vorkehrungen, um einen möglichen Produktionsstopp entgegenzuwirken?

Das weiß ich nicht. Wir haben die Situation, dass beim Erdgas die Versorgung der Bevölkerung Vorrang vor der Industrie hat. Wenn wir nun mit dem Szenario eines Lieferstopps russischer Energie in den Winter kommen und wir ein deutliches Defizit an Erdgas hätten, müsste es eine Entscheidung zwischen weniger Erdgas für die Heizung oder die industrielle Produktion geben.

„Vielmehr müssen wir sowohl eine diversifizierte Internationalisierung der Versorgung als auch einen stufenweisen Ersatz bisheriger Energieträger anstreben.

Die kürzlich veröffentlichte Stellungnahme der Leopoldina kommt zu dem Schluss, „dass auch ein kurzfristiger Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft handhabbar wäre“. Für wie praxisnah halten Sie die Stellungnahme?

Die Stellungnahme macht ja deutlich, dass ein schneller spezifischer Ersatz von russischem Erdgas durch heimische erneuerbare Energie nicht möglich ist. Damit positioniert sich die Leopoldina meiner Meinung nach sehr deutlich, dass wir nicht ohne weiteres aus den aktuellen Energieträgern aussteigen können. Vielmehr müssen wir sowohl eine diversifizierte Internationalisierung der Versorgung als auch einen stufenweisen Ersatz bisheriger Energieträger anstreben – und da schließe ich mich voll und ganz an.

Als eine der Sofortmaßnahmen nennt das Papier auch den Ersatz von Gas durch Kohle im Stromsektor. Wäre das überhaupt ohne weiteres möglich?

Etwa 12 Prozent des gesamten Erdgasbedarfs wird für die Stromerzeugung eingesetzt – daher halte ich den Ansatz grundsätzlich für richtig. Aber dafür muss man Kohle auch in ausreichenden Mengen beschaffen und rund 50 Prozent der Kohle stammt ebenfalls aus Russland. Dazu kommt die Schwierigkeit, dass ein Kraftwerk stets für eine ganz besondere Kohlespezifikation gebaut ist: Man kann also nicht ohne weiteres Kohle aus Russland durch Kohle aus einem anderen Land ersetzen, weil sich die Kohle zu stark voneinander unterscheidet – das ist ein ganz praktisches Problem.

Wirtschaftsminister Robert Habeck äußerte sich zuletzt, dass er es noch nicht für gesichert ansehe, dass man ohne russisches Gas gut durch den Winter käme. Teilen Sie seine Einschätzung.

Ich stimme Herrn Habeck hier zu, bis zum Herbst halte ich das durchaus für handhabbar, aber die Situation für den Winter bewerte ich als kritisch. Letztlich ist es auch eine politische Frage, wie man auf den weltweiten Energiemärkten agieren möchte. Eine mögliche Strategie könnte sein, dass man auf diplomatischem Wege versucht, Japan oder China davon zu überzeugen, dass sie weniger LNG nutzen. Beide sind große LNG-Verbraucher und wenn es gelänge, wäre dadurch gegebenenfalls mehr LNG für europäische Verbraucher verfügbar.

Welche anderen Aspekte könnten die Energiesicherheit in Deutschland noch erhöhen?

Ein Punkt, der in der gesamten Diskussion kaum Beachtung findet, ist das Thema Biogas. Wir nutzen Biogas in Deutschland überwiegend, um daraus Strom und Wärme zu machen. Wir könnten aber rund 10 Prozent des aktuellen Erdgasbedarfs durch Biogas ersetzen, wenn man die Anlagen entsprechend anpassen würde. Gleichzeitig werden die Anlagen reihum stillgelegt, weil sie sich nicht mehr wirtschaftlich betreiben lassen. Eine stärkere Nutzung des Biogases als Erdgassubstitut (SNG, Substitute Natural Gas) müsste aber politisch gewollt sein und bräuchte ebenfalls eine gewisse Zeit zur Umsetzung, aber in der Gesamtbetrachtung der Versorgungssicherheit in Deutschland sollten wir meiner Meinung nach diesen Aspekt nicht außer Acht lassen.

 

Zur Person

Prof. Dr.-Ing. Thomas Kolb ist Lehrstuhlinhaber der Professur für Verfahrenstechnik Chemischer Energieträger am Engler-Bunte-Institut des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und leitet zudem die Abteilung Vergasungstechnologie am Institut für Technische Chemie (ITC).

Foto: Thomas Kolb