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„Die Strategien behalten ihre Gültigkeit und werden eher noch wichtiger.“

Ein Gespräch mit Dr. Sascha Samadi

Klimaneutralität umfasst das Konzept der sogenannten Netto-Null-Emissionen. Hierzu ist es notwendig, dass die vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen verringert und die verbleibenden Emissionen durch natürliche oder technische Lösungen kompensiert werden. Klimaneutralität birgt auch eine Chance für die Energieversorgungssicherheit, da Importabhängigkeiten durch die Reduzierung (importierter) fossiler Energieträger und einen stärkeren Einsatz von erneuerbaren Energien, die zu einem großen Teil heimisch gewonnen werden können, sinken.

Wie kann Klimaneutralität erreicht werden?

Ganz zentral für das Erreichen von Klimaneutralität ist die Transformation des Energiesystems. Zurzeit basieren über 80 Prozent der Treibhausgasemissionen in Deutschland auf der Nutzung von fossilen Energieträgern. Daher ist es wichtig, dass wir unsere Energieversorgung verändern und die Energieeffizienz erhöhen. Ein wichtiger Bereich zur Erhöhung der Energieeffizienz ist der Gebäudebestand. Dort lassen sich deutliche Effizienzfortschritte erzielen, wenn es uns gelingt, die bestehenden Gebäude schneller energetisch zu sanieren als bisher. Außerdem gibt es die Strategie der Elektrifizierung. Dies bedeutet, dass fossile Energieträger in verschiedenen Sektoren durch Strom ersetzt werden. Ein klassisches Beispiel ist das Elektroauto, bei dem Diesel oder Benzin durch Strom ersetzt wird. Eine vermehrte Verwendung von Strom führt natürlich zu einem deutlich höheren Bedarf, der durch einen schnelleren Ausbau von Solar- und Windkraftanlagen aufgefangen werden muss, um die Klimaziele zu erreichen. Allerdings kann Strom nicht für alles verwendet werden, zum Beispiel nicht für alle Bereiche des Luft- und Schiffsverkehrs. Hier setzt man auf Wasserstoff und synthetische Energieträger. Darüber hinaus geht man beispielsweise in der Landwirtschaft davon aus, dass Treibhausgasemissionen dort auch längerfristig nicht komplett vermieden werden können. Um sie zu kompensieren, braucht es sogenannte Negativemissionen. Das bedeutet, dass Emissionen ausgeglichen werden, beispielsweise durch Waldaufforstung oder indem CO2 mit Hilfe technischer Lösungen direkt aus der Atmosphäre abgeschieden und gespeichert wird.

„Es gibt Szenarien, die davon ausgehen, dass eine Verlagerung ähnlich wie in der Vergangenheit auch in Zukunft kaum gelingen wird und es gibt andere Szenarien, die da zuversichtlicher sind, weil sie annehmen, dass die Kosten für das Auto durch politische Instrumente steigen werden.“

In einer Publikation vergleichen Sie verschiedene vorliegende Szenarien, die Klimaneutralität bis 2045 erreichen. Worin unterscheiden sich diese?

Die wesentlichen Strategien für das Erreichen von Klimaneutralität, die ich gerade genannt habe, kommen in allen Szenarien vor. Die Unterschiede sind verhältnismäßig klein. Ein Beispiel ist die Verlagerung des Personenverkehrs von der Straße auf die Schiene. Es gibt Szenarien, die davon ausgehen, dass eine solche Verlagerung ähnlich wie in der Vergangenheit auch in Zukunft kaum gelingen wird und es gibt andere Szenarien, die da zuversichtlicher sind, weil sie annehmen, dass die Kosten für das Auto durch politische Instrumente steigen werden. Weiterhin gibt es Unterschiede in Bezug auf die Recyclingraten. Hohe Recyclingraten von Grundstoffen wie Stahl und Aluminium oder auch Kunststoffen führen dazu, dass in der Industrie weniger Energie benötigt wird. Allerdings ist man sich diesbezüglich unsicher, wie groß das Potenzial hier ist. Ebenfalls gibt es in Bezug auf den Wasserstoffeinsatz unterschiedliche Einschätzungen. Wie viel benötigen wir und wo sollte er am ehesten eingesetzt werden? Wird er zum Beispiel im Industriesektor nur in der Stahl- und der chemischen Industrie eingesetzt, oder auch in anderen Industriebranchen?

Der Verkehrssektor gilt als Problemkind der Energiewende, da die Emissionen in diesem Sektor seit 1990 (abgesehen vom Einbruch durch Corona) nicht gesunken sind.

Genau, das hängt mit dem Zuwachs an Mobilität sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr zusammen. Und ebenfalls damit, dass die Autos tendenziell größer, schwerer und leistungsfähiger geworden sind.

„Allerdings sollte es unserer Ansicht nach beim Verkehr nicht auf eine reine Antriebswende hinauslaufen.“

Was müsste sich im Verkehrssektor ändern?

Große Chancen für eine Reduktion der Treibhausgase liegen sicherlich in dem Umstieg auf Elektroautos. Zudem wird Wasserstoff insbesondere im Schwerlast-Güterverkehr vermutlich eine relevante Rolle spielen. Allerdings sollte es unserer Ansicht nach beim Verkehr nicht auf eine reine Antriebswende hinauslaufen. Wir sollten versuchen, die Emissionen auch durch die Verlagerung des Personen- und Güterverkehrs auf energieeffizientere und emissionsärmere Verkehrsträger zu reduzieren. Es ist sinnvoll, den Rad- und Fußverkehr zu stärken und u. a. im Rahmen der Stadtplanung auf Verkehrsvermeidung zu setzen.

Welche weiteren Energieträger gibt es, deren Potenzial eventuell noch nicht vollständig ausgeschöpft wurde?

Insbesondere der Ausbau von Photovoltaik- und Windkraftanlagen für die Stromerzeugung ist wichtig. Wenn es aufgrund der aktuellen Lage um einen schnellen Ausbau der Erneuerbaren geht, um Erdgas einzusparen, dann ist Photovoltaik sicherlich eine Technologie, die relativ schnell bereits in den nächsten Monaten und wenigen Jahren installiert werden könnte. Bei der Windenergie sind die Vorlaufzeiten für neue Anlagen etwas länger, aber auch hier ist bis 2030 ein deutlich beschleunigter Ausbau ganz zentral. Ich hoffe daher, dass auch infolge der aktuellen Entwicklungen überall in der Gesellschaft, der Landes- und der Bundespolitik die Bereitschaft wächst, die Windenergie beschleunigt auszubauen. Zudem gibt es noch das Potenzial von Biogas, das jetzt ebenfalls wieder stärker diskutiert wird. Es war bisher häufig nicht wirtschaftlich, größere Teile des nachhaltig verfügbaren Biogas-Potenzials zu nutzen, aber wenn Erdgas nun länger teuer ist, dann könnte es auch wirtschaftlich möglich sein, mehr Biogas aus Reststoffen oder Gülle zu erzeugen.

„Würde ein Lieferstopp von russischem Erdgas tatsächlich kurzfristig eintreten, dann wären die Szenarien bis 2030 in gewisser Weise überarbeitungsbedürftig, da in den nächsten Jahren nicht mehr die eigentlich vorgesehenen Mengen an Erdgas eingesetzt werden könnten.“

Inwieweit ändert der Ukraine-Krieg die Ausgangslage oder die Aussagekraft der Szenarien?

Die Aussagekraft der Szenarien ändert sich mittel- und langfristig nicht. Die Strategien behalten ihre Gültigkeit und werden durch die aktuelle Situation eher noch wichtiger. Was sich allerdings verändern könnte, ist die kurze Frist, da die Szenarien bis 2030 einen nur moderat reduzierten Einsatz von Erdgas annehmen. Würde ein Lieferstopp von russischem Erdgas tatsächlich kurzfristig eintreten, dann wären die Szenarien bis 2030 in gewisser Weise überarbeitungsbedürftig, da in den nächsten Jahren nicht mehr die eigentlich vorgesehenen Mengen an Erdgas eingesetzt werden könnten. Auch durch vermehrte Lieferungen aus anderen Ländern wäre es kurzfristig nicht möglich, die derzeitige Erdgasversorgung aufrecht zu halten. Man müsste sich für die nächsten Jahre umorientieren. Wir müssten neben der Abschaltung bestimmter industrieller Prozesse wohl auch in der Stromerzeugung übergangsweise wieder etwas stärker auf Kohle setzen. Wir können und sollten dennoch an dem Ziel festhalten, bis spätestens 2030 aus der Kohle auszusteigen, aber in der Zwischenzeit könnte vorübergehend ein stärkerer Rückgriff auf Kohle notwendig werden. Langfristig gesehen, wird die Aussagekraft der Szenarien aber nicht beeinträchtigt, da in diesen in Zukunft – insbesondere nach 2030 – ohnehin immer weniger auf Erdgas gesetzt wird.

„Auch in Zukunft bleibt es wichtig, dass der Energiebezug diversifiziert wird, sodass wir nicht von einem Land abhängig sind, sondern aus möglichst verschiedenen (und zu einem großen Teil auch europäischen) Ländern importieren.“

Trotz Energiewende wird Deutschland nicht energieautark sein. Inwiefern könnte eine Importabhängigkeit durch erneuerbare Energien reduziert werden und welche Importabhängigkeiten bleiben bestehen?

Die Szenarien zeigen, dass es tatsächlich zu einem deutlichen Rückgang der Importabhängigkeiten käme, wenn wir die Energiewende wie vorgesehen umsetzen. Derzeit hat Deutschland bei der Primärenergieversorgung eine Importquote von rund 70 Prozent. Diese Importquote kann in den Szenarien bis 2050 auf etwa 20 bis 35 Prozent reduziert werden. Dies wird durch Effizienzfortschritte sowie den starken Ausbau heimischer erneuerbarer Energien erreicht. Dennoch wird Deutschland auch Mitte des Jahrhunderts noch auf Energieimporte angewiesen sein, dann aber auf klimaneutrale Energieträger, die auf erneuerbaren Energien beruhen. Auch in Zukunft bleibt es wichtig, dass der Energiebezug diversifiziert wird, sodass wir nicht von einem Land abhängig sind, sondern aus möglichst verschiedenen (und zu einem großen Teil auch europäischen) Ländern importieren.

Wie nutzen wir die aktuelle Krise also für eine schnellere Klimaneutralität und können gleichzeitig eine sichere und nachhaltige Versorgung gewährleisten?

Meine Hoffnung wäre, dass in dieser Krise das gesellschaftliche Verständnis für die Bedeutung der Strategien gestärkt wird, die aus Klimaschutzgründen schon lange empfohlen werden und die aktuell aus Gründen der Energieversorgungssicherheit noch mal eine zusätzliche Bedeutung gewonnen haben. Diese Strategien, bei denen es Synergien zwischen Klimaschutz und Versorgungssicherheit gibt, sollten in den nächsten Monaten und Jahren priorisiert werden.

 

Zur Person

Dr. Sascha Samadi ist Senior Researcher am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Er forscht zu zukünftigen Energie- und Industriesystemen, insbesondere im Bereich „Sektoren und Technologien“.

Foto: Wuppertal Institut/S. Michaelis

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