1. Kann Deutschland kurzfristig einen Stopp der russischen Gaslieferungen ausgleichen?
Deutschland bezieht 55,2 Prozent des importierten Erdgases aus Russland. Aufgrund des russischen Kriegs in der Ukraine wird über Sanktionen in Form eines Stopps der Gasbeziehung zu Russland diskutiert. Aber auch ein Aufheben der Geschäftsbeziehung seitens Russlands ist möglich. Die Antwort auf die Frage, ob Deutschland einen solchen Stopp kurzfristig ausgleichen kann, lautet: grundsätzlich ja. Insbesondere russisches Gas für die Stromerzeugung kann durch einen Umstieg auf Braun- und Steinkohle eingespart werden. Beim Gas für Heizwärme für Privathaushalte und die Industrie, die den Großteil des Gasverbrauchs darstellt, gestaltet sich das etwas schwieriger. Hier stehen laut dem Expert*innengremium der Nationalakademie Leopoldina nur begrenzt Alternativen zur Verfügung. Eine Möglichkeit wäre aber der Import von Flüssiggas (LNG). Um die notwendigen Mengen LNG zu importieren und nutzen zu können, fehlen in Deutschland jedoch hierfür die erforderlichen Terminals. Alternativ könnten 10 Prozent des für Notfälle eingelagerten Gases verwendet werden. Ein kurzfristiger Import aus anderen Lieferquellen (z.B. aus dem Ausland) ist in einem gewissen Rahmen möglich. Eine Maßnahme, die kurzfristig greifen könnte, ist laut einer Analyse von Bruegel aber eher das Einsparen von Gas sowohl in Industrie wie Privathaushalten.
2. Wer könnte als Gaslieferant einspringen?
Berechnungen von ECONtribute ergeben, dass Deutschland oder auch die gesamte EU auf Importe aus Norwegen, Nordafrika und Aserbaidschan zurückgreifen könnte. Allerdings ist dies an technische und logistische Bedingungen gekoppelt, da die Länder ihre Gasproduktion und LNG-Exporte nicht einfach steigern können. Einerseits sind mögliche Exportländer selbst an ihrer Belastungsgrenze, andererseits verfügt Deutschland nicht über die notwendigen Terminals. Eine weitere Möglichkeit wäre laut Aurora Energy Research der Gasimport aus den Niederlanden. Die Niederlande verfügen über ein Gasfeld in der Region um Groningen. Dieses weiter auszulasten, wäre möglich, jedoch mit einer größeren Erdbeben-Gefahr verbunden.
3. Wie kann sich Deutschland von Russland langfristig unabhängig machen?
Aktuell wird die Verlängerung der Kohle- und Kernkraftwerke als Maßnahme zur Unabhängigkeit von russischem Gas diskutiert. Mittel- und langfristig ist es jedoch sinnvoller, so das Expert*innengremium der Nationalakademie Leopoldina, grüne Energieträger auf der Basis von Wasserstoff in den Fokus zu rücken und gezielt voranzutreiben. Weiterhin ist auch der Ausbau von LNG-Terminals beschlossen – sowohl in Brunsbüttel (Schleswig-Holstein) als auch in Wilhelmshaven (Niedersachsen). Ein Ausbau wird jedoch voraussichtlich ca. drei Jahre dauern.
4. Was würde ein Lieferstopp für Verbraucher*innen bedeuten? Bleiben bald die Heizungen kalt?
Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Deutschland einen Stopp russischer Gaslieferungen zwar handhaben könnte, die Auswirkungen in Form steigender Gaspreise jedoch spürbar wären. Steigende Gaspreise könnten bewirken, dass Verbraucher*innen ihr Heizverhalten anpassen, was sich positiv auf den Füllstand der Gasspeicher auswirken würde. Allerdings besteht nach Angaben von Aurora Energy Research auch die Gefahr der sogenannten Brennstoffarmut: Ärmere Menschen wurden unter den steigenden Energiekosten besonders leiden. Dies macht sozialpolitische Maßnahmen erforderlich. Diskutiert wurden eine Pro-Kopf-Pauschale oder eine am Verbrauch gemessene Pauschale. Letztere würde jedoch zugunsten einkommensstärkerer Haushalte gehen. Eine gezielte Unterstützung einkommensschwächerer Haushalte könnte, laut ECONtribute, beispielweise durch die Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes oder des Wohngeldes sowie durch die Senkung der Stromsteuer gelingen. Stromengpässe und kalte Wohnungen sind trotzdem nicht zu befürchten.
5. Was würde ein Lieferstopp russischen Gases für die Wirtschaft bedeuten?
Ein Lieferstopp würde die Wirtschaft vor größere Herausforderungen stellen als einzelne Privathaushalte. Kurzfristig würde ein Stopp der russischen Exporte, laut Schätzungen von ECONtribute, einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zwischen 0,5 Prozent und 3 Prozent bedeuten. Zum Vergleich: Der BIP-Rückgang aufgrund der Corona-Pandemie lag 2020 bei 4,5 Prozent. Im Falle anhaltend hoher Gaspreise, so prognostiziert das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln, besteht die Möglichkeit einer erhöhten Inflationsrate um mehr als 2 Prozentpunkte. Dies belaste die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, die stark von Gaslieferungen abhängig sind. Eine Befragung des IW Köln ergab, dass 71 Prozent der Industrieunternehmen aufgrund von energieintensiven Produktionsprozessen eine Belastung durch höhere Produktionskosten erwarten. Ganz ausbleibende Gaslieferungen bewerten 37 Prozent der Industrieunternehmen als großen Angebotsschock. Daher gilt es, russische Gasimporte sowohl kurz- als auch langfristig durch andere Energiequellen auszugleichen.
6. Was bedeutet das für energiepolitische Maßnahmen?
Die EU hat ihre Importkapazitäten von LNG nicht vollständig ausgeschöpft. Energiepolitisch rät Bruegel eine europäische Strategie, um Importe von LNG zu erhöhen. Da die Beschaffung von Gas und die Einspeicherung aktuell mit starken Risiken für nicht-staatliche Betreiber*innen verbunden sind und somit ein Einkauf von Gas wirtschaftlich unattraktiv ist, wird von der Nationalakademie Leopoldina empfohlen, die EU diese Rolle als aktiven Akteur übernehmen zu lassen. LNG-Terminals aus anderen Ländern könnten Deutschland mitversorgen, dafür muss jedoch die globale Verfügbarkeit von LNG sowie die internationale Kooperationsgemeinschaft ausreichend hoch sein. Langfristig gesehen, ist der Ausbau eigener Terminals sinnvoll.