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Millionen Menschen von Hunger bedroht

Hoher Weizenpreis trifft die Ärmsten der Armen

Die Lage spitzt sich zu: Bereits in diesem Sommer rechnen Expert*innen mit einer dramatischen Hungersnot im Nahen Osten und Ländern Nord- und Ostafrikas – auch infolge der Ukrainekrise. Denn Russland und die Ukraine gehören weltweit zu den wichtigsten Getreidelieferanten. Fast ein Drittel des global gehandelten Weizens stammt aus diesen Ländern. Doch wegen des Krieges stocken momentan die Exporte – und die Preise für wichtige Grundnahrungsmittel wie Weizen oder Sonnenblumenöl explodieren.

„Der Weizenpreis ist um mehr als 50 Prozent gestiegen und Sonnenblumenöl kostet sogar doppelt so viel wie noch vor einem Jahr“, sagt der Direktor des Forschungsbereichs Internationale Entwicklung am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), Prof. Dr. Tobias Heidland. Menschen in nord- und ostafrikanischen Ländern, aber auch im Libanon, im Jemen oder Syrien trifft das besonders hart. Denn dort ernähren sich gerade die Ärmsten vor allem von dem, womit man den Kalorienbedarf bisher mit wenig Geld am ehesten decken konnte: Weizenfladen oder in Sonnenblumenöl gebratenem Frittierten. In Ägypten beispielsweise deckten arme Menschen, die sich kein Fleisch leisten können, rund die Hälfte ihres Kalorienbedarfs über Weizenprodukte. Ausgerechnet die ärmsten der Armen litten daher am stärksten unter dem Preisanstieg, so Heidland.

„Die Lebensmittelpreisinflation führt dazu, dass sich Menschen ganze Mahlzeiten nicht mehr leisten können.“

Prof. Dr. Tobias Heidland, Direktor des Forschungsbereichs Internationale Entwicklung am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW)

Schon vor dem Krieg war die Lage prekär: Wegen Dürren infolge des Klimawandels, der Heuschreckenplage in Ostafrika im vergangenen Jahr und auch aufgrund von Lieferschwierigkeiten während der Coronakrise war die Versorgungslage bereits angespannt. Durch den Ukrainekonflikt spitzt sich die Situation nun nochmals erheblich zu. „Viele Haushalte in ärmeren Ländern haben während der Lockdowns in der Pandemie ihr Einkommen verloren und ihre Ersparnisse aufgebraucht“, sagt Tobias Heidland. „Die aktuelle Lebensmittelpreisinflation führt nun dazu, dass sich Menschen ganze Mahlzeiten nicht mehr leisten können.“ Aktuell sind laut Oxfam allein in Ostafrika bis zu 28 Millionen Menschen von extremem Hunger bedroht, auf Madagaskar und in Somalia herrscht bereits jetzt eine schreckliche Hungersnot, ebenso wie in anderen Teilen der Welt, beispielsweise im Jemen.

Wenn das Geld für die täglichen Mahlzeiten nicht mehr reicht, werden zunächst die Mahlzeiten in den Familien kleiner, so Heidland. Im zweiten Schritt werden einzelne Mahlzeiten ausgelassen. Eltern sparen dabei meist zuerst bei sich selbst, dann bei den Kindern. Schließlich wird an Ausgaben gespart, die fürs Überleben nicht essentiell sind, aber langfristig negative Folgen haben – vor allem für die Zukunft junger Menschen: Kinder werden aus der Schule genommen, obwohl sie dort meist noch eine sichere Mahlzeit erhalten. Der Grund: Das Schulgeld kann nicht mehr bezahlt werden. Häufig kehrten die Kinder dann – selbst wenn die Situation sich wieder entspannt – nicht mehr in die Schule zurück. Vor allem Mädchen.

Was ist zu tun in der Not? Die Agrarökonomin Dr. Janine Pelikan vom Thünen-Institut für Marktanalyse sagt, dass kurzfristig vor allem Dreierlei erforderlich sei: Das Umlenken zusätzlicher Exporte aus anderen Regionen wie USA und Australien. Ein Abbau von Handelshemmnissen, auch innerhalb des afrikanischen Kontinents bzw. ein Vermeiden neuer Hemmnisse. Und drittens: Eine Stärkung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen. Der exorbitante Anstieg der Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise hat dazu geführt, dass das Welternährungsprogramm im Vergleich zu 2019 zusätzliche Kosten in Höhe von 71 Millionen US-Dollar pro Monat für die weltweiten Hilfseinsätze benötigt – ein Anstieg um 50 Prozent.

„Länder, die jetzt Exporte von Grundnahrungsmitteln wie Reis einschränken, treiben die Lebensmittelpreise nochmals nach oben.“

Dr. Janine Pelikan, stellvertretende Institutsleiterin am Institut für Marktanalyse des Thünen-Instituts

Deutschland und andere Länder der EU könnten zudem durch eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen helfen, die Lage zu entschärfen: Jetzt direkt möglichst viel Getreide und Ölsaaten produzieren, Reserven mobilisieren, und politisch auf Länder einwirken, die derzeit Exporte von anderen Grundnahrungsmitteln einschränken. „Denn diese Länder treiben die Lebensmittelpreise insgesamt nochmals nach oben“, sagt Janine Pelikan und nennt als Beispiele den aktuellen Ausfuhrstopp von Weizen in Indien und Exportbeschränkungen für Reis durch China und Vietnam.

Mit Blick auf eine Studie des Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien IAMO, die den wettbewerblich organisierten Handel als wichtiges Instrument zur Bewältigung regionaler Produktions- und Versorgungsengpässe beschreibt, setzt Pelikan längerfristig auch auf eine Stärkung des innerafrikanischen Handels und eine Stärkung der eigenen Produktion, auch von Substituten. In dem Zusammenhang seien ein Zugang zu Bildung, zu Düngemitteln und funktionierende Bodenmärkte wichtig. Ganz auf Autarkie und Selbstversorgung zu setzen hält sie – auch angesichts der Klimakrise – für gefährlich. Insgesamt gelte: Je globalisierter der Welthandel sei, desto eher ist es aus Sicht der Agrarökonomin möglich, kurzfristig Defizite auszugleichen und Preise zu stabilisieren.

Auch Tobias Heidland warnt davor, die Globalisierung zurückzudrehen. Wichtig sei vielmehr, dass sich Länder nicht in Abhängigkeit von einzelnen Exporteuren begeben. So wie Deutschland derzeit lerne, dass es ein dramatischer Fehler war, bei Gasimporten vor allem auf Russland zu setzen, so sei auch bei Nahrungsmittelimporten Diversifikation wichtig. Länder wie Äthiopien, Somalia, Kenia und Südsudan treffe die derzeitige Lage vor allem deshalb so hart, weil sie bis zu 90 Prozent ihres Weizens aus Russland und der Ukraine importierten.

„Wir müssen mit Know How und Technologien unterstützen – und für diese Technologien auch werben.“

Prof. Dr. Tobias Heidland, Direktor des Forschungsbereichs Internationale Entwicklung am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW)

Statt einer Fokussierung auf die direkte Unterstützung von Kleinbäuer*innen setzt Heidland längerfristig auf eine Stärkung größerer Farmen samt verbesserter Technologien, um die Produktivität der Agrarsysteme in Ländern des globalen Südens zu steigern. „Wir müssen mit Know How und Technologien unterstützen – und für diese Technologien auch werben“, sagt der Ökonom. Die kleinbäuerliche Arbeit sei vielfach ineffektiv und viel zu viele Menschen in Produktionsweisen gefangen, die ihnen angesichts von Kriegen oder Klimakrise nicht einmal das Überleben sicherten. Eine große Verantwortung sieht Heidland bei den jeweiligen Regierungen: Sie müssten ihre Agrarsysteme besser aufstellen und den innerafrikanischen Handel stärken anstatt auf Importe von anderen Kontinenten zu setzen. 

Eine weitere Sofortmaßnahme, um mehr Getreide auf den Weltmarkt zu bringen und die Hungerkrise abzuwenden, nennen Expert*innen des Internationalen Expertenrats für nachhaltige Landwirtschaft (IPES): Die G7-Staaten hätten große Nahrungsmittelreserven, die sie sofort freigeben könnten. Außerdem gebe es Hinweise darauf, dass Finanzspekulant*innen in Rohstoffinvestitionen einsteigen und auf steigende Lebensmittelpreise setzten, so IPES-Food-Expertin Jennifer Clapp. „Das treibt die ärmsten Menschen der Welt noch tiefer in den Hunger.“ Ihre Forderung an aktuelle Regierungen: Übermäßige Spekulationen einzudämmen und die Transparenz der Lebensmittelvorräte und Rohstoffmärkte zu gewährleisten.“

Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat sich die Weltbevölkerung seit 1960 mehr als verdoppelt. Doch im gleichen Zeitraum hat sich die globale Nahrungsmittelproduktion mehr als verdreifacht. Folgt man den Zahlen der OECD, ist genug für alle da und es kommt eher auf die Verteilung nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Teller, Trog und Tank an. Denn auch laut der Welternährungsorganisation FAO landen immer mehr Pflanzen statt auf den Tellern der Ärmsten im Futtertrog, um den hohen Fleischkonsum in den reicheren Teilen der Welt zu ermöglichen.

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