Jeder Mensch hat eine andere Geschichte. (Foto: B_Me CC-0)

Typisch Flüchtling ist …

Was wissen wir über Flüchtlinge in Deutschland?

Der typische Flüchtling ist – so geben es die Mehrheit der Befragten bei der Asylantragsstellung an –männlich (74 Prozent), unter 33 Jahren alt (68 Prozent), hat eine Mittelschule oder ein Gymnasium besucht (52 Prozent) und kommt aus Syrien (41,8 Prozent), Afghanistan (16,9 Prozent) oder dem Irak (14,1 Prozent). Und ist einer von 956.269 Antragstellern, die seit Anfang 2015 bis Juli 2016 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eingereicht haben.

Es ist wohl ein besonderes Phänomen, dass in Deutschland Statistiken für fast alles angelegt werden. Was diese Statistiken aber nicht verraten, ist, welche Menschen hinter den Zahlen stecken. Was bewegt sie, was denken sie, welches Bild haben sie von Deutschland? Wie stellen sie sich das Leben hier vor, wie fühlen sie sich und was erhoffen sie sich für die Zukunft?

„Untersuchungen zu Einstellungen und Erwartungen von Flüchtlingen in Deutschland sind aufwändige Unterfangen.“

(Prof. Dr. Jochen Oltmer)

Bisher gibt es kaum Untersuchungen zu den Erwartungen und Einstellungen von Flüchtlingen in Deutschland. Denn diese „sind aufwändige Unterfangen mit zeitintensiven Befragungen und Auswertungen“, so Prof. Dr. Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück und Mitglied des Organisationskreises des Netzwerks Flüchtlingsforschung. Eine der wenigen Erhebungen von Lebensumständen und Wertvorstellungen von Flüchtlingen in Deutschland hat Prof. Dr. Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) durchgeführt. (Eine weitere qualitative Studie mit etwas ungewöhnlichen Ergebnissen – „Die politischen Ansichten der Flüchtlinge ähneln am ehesten denen der Anhänger von AfD“ – ist vor kurzem von der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) veröffentlicht worden). Die Befragung von der IAB, wie Herbert Brücker selbst sagt, sei zwar nicht repräsentativ für die in Deutschland untergekommenen Flüchtlinge, gehe dafür aber umso mehr in die Tiefe (Für die Befragung wurden 123 Flüchtlinge aus den wichtigsten Herkunftsländern zwischen Dezember 2015 und März 2016 befragt).

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„Bei fast allen, die wir befragt haben, ergibt sich eine extrem starke demokratische Grundüberzeugung.“

(Prof. Dr. Herbert Brücker)

Und die Befragung liefert zumindest Anhaltspunkte, welche Erwartungen die Flüchtlinge mitbringen und welche Werte sie vertreten. So stellte sich in den Befragungen nach eigenen Angaben heraus, dass – auch wenn sich die Bildungsbiografien der Flüchtlinge stark unterscheiden – fast alle (und zwar Männer wie Frauen) eine sehr hohe Arbeitsmotivation und einen großen Bildungsdrang haben. Auch bei den Wertvorstellungen zeichnet sich ein klares Bild ab: „Bei fast allen, die wir befragt haben, ergibt sich eine extrem starke demokratische Grundüberzeugung“ sagt Herbert Brücker. Auch Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenwürde, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit und Trennung von Staat und Religion werden von einer großen Mehrheit ausdrücklich befürwortet.

Überraschend, so Herbert Brücker, ist auch, dass sich etwa die Hälfte der Flüchtlinge zu Beginn der Flucht bewusst für Deutschland entschieden haben. In den Befragungen stellte er außerdem fest, dass „die Menschen erstaunlich viel über Deutschland wissen, während unsere Gesellschaft recht wenig über die einzelnen Herkunftsländer weiß“. Doch nicht nur unsere Gesellschaft, sondern auch die Wissenschaft weiß bislang wenig über die konkreten Beweggründe, Umstände und Erfahrungen vor und während der Flucht. Gemeinsam mit dem sozio-oekonomischen Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und dem Forschungszentrum am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge arbeitet das IAB daher an der ersten großen repräsentativen Erhebung zu Flüchtlingen in Deutschland. Mit mehr als 400 Fragen wird diese breit gefächerte Erkenntnisse zu den Einstellungen, Erwartungen und Erfahrungen der Flüchtlinge liefern.

Solange müssen die Aussagen über die Werte und Einstellungen der Flüchtlinge noch mit aller Vorsicht betrachtet werden, denn die Interpretation von subjektiven Schilderungen unterliegt vielen Fallstricken. Ganz besonders, weil „Erwartungen auf Erfahrungen reagieren und permanent neu ausgehandelt werden“ so Jochen Oltmer. Berücksichtigen müsse man laut Herbert Brücker auch, dass sich „Einstellungen und Identifikation mit der Aufenthaltsdauer verändern“. Es ist also umso wichtiger, dass die große Flüchtlingsbefragung vom IAB als Längsschnittstudie angelegt und in regelmäßigen Abständen wiederholt werden wird. Um die Ergebnisse auswerten zu können, müssen gleichzeitig auch Vergleichswerte anderer Gruppen (erhoben und) herangezogen werden können – eine Menge Arbeit, die auf die Wissenschaftler zukommt.

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„Ich sehe faktisch keine Aspekte in der Flüchtlingsforschung, zu denen wir einen akzeptablen Forschungsstand haben.“

(Prof. Dr. Jochen Oltmer)

Überhaupt ist die Flüchtlingsforschung ein Bereich, in dem es noch viel Nachholbedarf für die Wissenschaft gibt. Tatsächlich findet man in Deutschland weder ein Institut für Flüchtlingsforschung, noch eine Professur, eine Förderlinie oder eine wissenschaftliche Zeitschrift. „Ich sehe faktisch keine Aspekte in der Flüchtlingsforschung, zu denen wir einen akzeptablen Forschungsstand haben“ sagt auch Jochen Oltmer. Warum es aber so wichtig ist, mehr über Flüchtlinge zu wissen und sich mit ihren Einstellungen und Erwartungen auseinanderzusetzen, liegt auf der Hand: Denn „man muss jeden Menschen in seiner Biographie wahrnehmen, um zu verstehen wie er in Deutschland weiterlebt und sich weiterentwickelt” (Herbert Brücker).

Update 5. Mai 2017

Erste Ergebnisse der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten wurden im November 2016 veröffentlicht. Download (PDF)

Position: Nisren Habib

Most of the Syrian women in Germany want to know more about the German values and life. And they are aware that Germany has strong legal rules that protect women on different levels. But they haven’t had the chance yet, to explore and benefit from it.

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Foto: Privat

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