Foto: Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland

„Krieg zwischen den Mitgliedstaaten ist undenkbar geworden“

Ein Gespräch mit Richard Kühnel

Welche Rolle spielte der Friedensaspekt bei der Gründung der EU?

Die europäische Integration war zwar primär wirtschaftlich ausgerichtet, aber das war nur das gewählte Mittel, nicht der eigentliche Zweck. Denn bereits bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1952 war der Friedensgedanke tief verankert. Damals wurde beschlossen, genau die Industriesektoren einer gemeinsamen supranationalen Behörde zu unterwerfen, die besonders kriegswichtig sind. Das Projekt EU ging also am Anfang über den wirtschaftlichen Weg, aber stets mit dem Ziel und Zweck den Frieden permanent festzuschreiben. Das ist auch der zentrale Inhalt der Erklärung von Robert Schuman 1950, dem damaligen französischen Außenminister, als Grundstein der europäischen Integration.

„Das ist ein Rekord, den wir aufstellen und dessen Ende noch nicht absehbar ist.“

Was ist der große Erfolg der EU für den Frieden?

Der Europäische Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission sind Institutionen, die es obsolet gemacht haben, Argumente mit Kanonendonner durchzusetzen. Die Auseinandersetzungen der EU-Staaten werden nicht mehr auf dem Schlachtfeld ausgetragen, sondern an Konferenztischen. Dank der Integration und der Verschränkungen der Staaten und Gesellschaften Europas, ist Krieg zwischen den Mitgliedstaaten undenkbar geworden. Und das Prinzip der friedlichen Konfliktaustragung konnte man von den ursprünglichen sechs Staaten auf nun 28 Staaten ausdehnen.

So gibt es innerhalb der EU seit sieben Jahrzehnten Frieden. Das ist ein Rekord, den wir aufstellen und dessen Ende noch nicht absehbar ist. Wir haben aber nicht sieben Jahrzehnte Frieden in ganz Europa. Nur der Teil Europas, der sich dem Zusammenschluss von Staaten, Völkern und Menschen und dem europäischen Integrationsprozess verpflichtet hat, kann auf diese Friedensperiode zurückblicken.

Welche Bedeutung haben dabei Demokratien? Ist die EU ein Friedensprojekt oder auch ein Demokratisierungsprojekt?

Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der inneren und äußeren Stabilität von Gesellschaften und ihrer demokratischen Verfasstheit. Die EU ist dabei beides: Eine Verfestigung des Ansatzes einer pluralistischen Demokratie – auch wenn sie sicherlich noch nicht überall und immer perfekt ist – und ein einzigartiges Friedensprojekt. Ich denke schon, dass es eine klare Wechselwirkung zwischen Demokratie, Europa und Frieden gibt, aber im Grunde genommen ist die Triebfeder des Friedens die Bündelung der Souveränität durch Integration. Deren Strahlkraft geht auch über Europa hinaus.

„Weltweit setzt sich die EU für Frieden und friedliche Stabilisierung von Gesellschaften ein.“

Welche Bedeutung hat die Teilung von gleichen Werten für den Frieden?

Es ist zentral, dass Werte nicht nur auf dem Papier und zwischen Staats- und Regierungschefs und Außenministern geteilt werden, sondern alle Schichten der Gesellschaft durchdringen. Doch Gesellschaften brauchen Zeit, bis der Einzelne diese auch als seine eigenen Werte voll und ganz begreift. Dieser Prozess kann auch nicht von oben nach unten diktiert werden, sondern wächst von unten. Und da ist diese Pflanze der europäischen Werte heute schon sehr weit gediehen und gereift, aber sie braucht immer noch Dünger, um zu wachsen. Denn auch der Wertediskurs ist kein absoluter, sondern einer, der sich mit der Zeit verändert. Je länger Staaten in der EU dabei sind, umso mehr reichen diese Werte auch in alle Bereiche der Gesellschaft hinein. Es zeigt sich aber auch, dass sich die Werte immer an den Realitäten des Lebens messen lassen müssen.

Welchen Beitrag leistet die EU, um Frieden auch außerhalb ihrer Grenzen herzustellen?

Die EU ist nicht nur nach innen eine positive, friedensschaffende Kraft, sondern auch nach außen hin eine Institution, die sich als Friedensspenderin versteht. Weltweit setzt sich die EU für Frieden und friedliche Stabilisierung von Gesellschaften ein. Das ist eine ganz wesentliche Mission, die auch in den Gründungsverträgen festgeschrieben ist.

Von allen globalen Akteuren hat die EU wohl das umfassendste Instrumentarium, um zu friedlichen Verhältnissen zwischen den Gesellschaften beizutragen. Einerseits mittels der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit, andererseits auch mit ihrem diplomatischen Personal. Durch unsere EU-Delegationen, wie auch mit dem Netzwerk unserer bilateralen Botschaften, sind wir weltweit aktiv und nehmen immer wieder an Friedensprozessen teil. Zuletzt etwa in Kolumbien, wo die EU im Hintergrund erfolgreich am Friedensprozess mitgewirkt hat. Und die EU ist letztlich diejenige, die die großen internationalen Konferenzen organisiert und auch am meisten beisteuert, wenn es um den Wiederaufbau, beispielsweise in Afghanistan oder im Irak, geht.

„Es geht vor allem darum, Vertrauen im größeren europäischen Rahmen wieder aufzubauen. Und daran werden wir weiter arbeiten.“

Wie kann eine Verteidigungsgemeinschaft, wie sie jetzt in der EU geschaffen wird, aktiv an der Friedensgestaltung mitwirken?

Die Entwicklung neuer Verteidigungskapazitäten und die Schaffung einer militärischen Komponente klingt für viele, die sich dem Frieden verschrieben haben, zunächst wie ein Widerspruch. Aber die EU hat auch erkannt, dass man nur mit soft-power sich nicht mehr erfolgreich um den Frieden bemühen kann. Wir bauen diese Kapazitäten ja nicht auf, um offensiv aktiv zu werden, sondern um einerseits den Schutz unserer Bürger in Europa zu erhöhen, andererseits aber auch um die Resilienz von Gesellschaften und politischen Systemen innerhalb wie auch außerhalb Europas zu stärken. Dabei geht es vor allem darum, den neuen Bedrohungen wie Terrorismus, aber auch kriegerischen Ambitionen von Akteuren in unterschiedlichen Regionen entgegenstehen zu können. Wir arbeiten aber nicht nur daran, innerhalb Europas unsere Kapazitäten zu verstärken, sondern auch an der Zusammenarbeit mit Partnern in anderen Teilen der Welt. Durch gemeinsame Trainingsmaßnahmen sind auch deren Sicherheitsstrukturen und -kapazitäten besser aufgestellt.

Welche Verantwortung hat die EU nach außen?

Je mehr wir an Gewicht und Stärke durch die innere Integration und die Erweiterungen gewinnen, umso größer wird auch unsere kollektive Verantwortung über unsere Grenzen hinaus – insbesondere für unsere Nachbarschaft. Wir verstehen aber – und das ist ein Unterschied zur russischen Außenpolitik – Nachbarschaftspolitik nicht als Nullsummenspiel. Wenn wir also in Ländern rund um uns herum an Einfluss gewinnen oder gar mit diesen Abkommen schließen, um sie an unser System heranzuführen, geht das nach unserem Verständnis nicht auf Kosten anderer Akteure. Im konkreten Fall der Ukraine etwa ist es unsere Verantwortung mit Russland und der Ukraine zu versuchen, in diesem Prozess einen zukunftsfähigen Ausweg zu finden. Dabei geht es tatsächlich um mehr als nur die Ost-Ukraine. Es geht vor allem darum, Vertrauen im größeren europäischen Rahmen wieder aufzubauen. Und daran werden wir weiter arbeiten. Im guten Willen und im guten Glauben.

Was kann die Welt in Bezug auf Frieden von der EU lernen?

Wir sehen eine Tendenz zu regionaler Kooperationsbereitschaft – es gibt die Afrikanische Union, in Südamerika Mercosur, oder in Asien die ASEAN – es entstehen weltweit Modelle der Zusammenarbeit. Diese haben allerdings nicht annähernd die Integrationstiefe der EU. Die Empfehlung, die wir anderen mitteilen können ist dabei klar: Die Bündelung der Souveränität als Gewinn einer kollektiven Souveränität zu verstehen – und nicht als Verlust der nationalen Souveränität. Denn das ist der eigentliche Geniestreich Schumans, der von Adenauer auch gleich als solcher erkannt worden war.

Zur Person

Richard Kühnel leitet seit 2014 die Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland. Die Vertretung fungiert als Bindeglied zwischen der nationalen Politik und Öffentlichkeit und der Europäischen Kommission in Brüssel.

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