Foto: Universität der Bundeswehr München

„Es ist Zeit, sich mit Erinnerungskultur auseinander zu setzen“

Ein Gespräch mit Dr. Jonas Anderson

Was versteht man unter dem Begriff Erinnerungskultur?

Erinnerungskultur ist der Gebrauch von Geschichte in der Öffentlichkeit. Das ist nicht zwingend der wissenschaftliche Gebrauch, sondern der allgemeine. Damit ist Erinnerungskultur Teil des kollektiven Gedächtnisses und erfüllt immer einen bestimmten Zweck. Das heißt, Erinnerungskultur ist immer für die Gegenwart gedacht. Das Spenden einer gemeinsamen Identität durch die Vorstellung einer gemeinsamen Geschichte und die Legitimation einer Nation durch Geschichte sind wichtige Beispiele für Erinnerungskultur und auch Beispiele, wie diese gegenwartsbezogen einen Zweck erfüllt.

Wer handelt dieses kollektive Gedächtnis aus? Die Zivilgesellschaft oder die Politik?

Das ist sicherlich immer ein Zusammenspiel. Das sieht man zum Beispiel bei Statuen, um die es ja gerade in der Debatte so stark geht. Teilweise werden Statuen von Herrschenden gesetzt mit einer bestimmten Intention der Erinnerung, der Verherrlichung oder Glorifizierung von Personen oder Ereignissen. Teilweise initiiert das aber auch die Zivilgesellschaft, die bestimmte Formen der Erinnerung im öffentlichen Raum sehen will, sich dafür einsetzt und damit auch ihre eigene Agenda verfolgt. Dieses Zusammenspiel ergibt letztendlich ein Gemisch von Gedenkkulturen.

Das heißt, Statuen und Denkmäler haben die Funktion die jeweilige Erinnerungskultur zu symbolisieren?

Genau, sie sind Teil der Erinnerungskultur, wie es auch andere Dinge sind, beispielsweise Traditionen, Feste, Gedenktage, Architektur. Denkmäler und Statuen sind sehr deutliche Zeichen einer Erinnerungskultur und verfolgen die Intention, bestimmte Taten und Ereignisse und deren Interpretation für künftige Generationen lebendig zu halten. Es ist auch so, dass man hier von dem erzieherischen Aspekt reden kann, der mitgedacht wird. Diesen kann man manchmal auch ganz deutlich auf Inschriften sehen. „Zum Frieden mahnend“ oder „Künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung“ sind Beispiele dafür. Hier sieht man, dieses Denkmal wurde gebaut, um zukünftige Generationen zu erziehen, um ihnen ein Beispiel zu setzen und ihnen bezüglich ihrer Vergangenheit einen gewissen Weg in die Zukunft zu weisen.

„Wenn wir uns Statuen und Denkmäler dort angucken, sehen wir auch Denkmäler, die an rassistische Terrororganisationen erinnern und diese glorifizieren.“

Wie bewerten Sie die aktuelle Diskussion um Denkmäler in den USA?

Ganz grundsätzlich will ich erst einmal sagen, dass die Beschäftigung mit Geschichte immer positiv zu bewerten ist. Menschen gehen sonst eher mal an Denkmälern vorbei, beachten sie gar nicht mehr und machen sich auch keine Gedanken, wer da verewigt wurde. Das ändert sich jetzt, weil Menschen gegen bestimmte Denkmäler protestieren, ihren Abbau fordern oder selbst gewaltsam ihren Abbau vornehmen. Ein großer Teil der Gesellschaft beschäftigt sich das erste Mal tiefergehend mit einer verewigten Person und was auch wichtig ist, mit der Entstehungsgeschichte der Denkmäler. Dazu kommt, dass es in den USA einfach diese hoch problematische Erinnerungskultur bezüglich der Konföderation gibt.

Können Sie diese problematische Erinnerungskultur genauer erklären?

Also in den Südstaaten hat man, nachdem diese nach dem Bürgerkrieg wieder in die Union eingegliedert wurden, sehr schnell Bürgerrechte von schwarzen Amerikanern, also von befreiten Sklaven, wieder beschnitten und ein System der weißen Vorherrschaft errichtet. Die Rassentrennung und die Benachteiligung von Schwarzen waren Teil dieses Systems. Auch die dezidiert positive Erinnerung an den alten Süden gehörte zu diesem System. Wenn wir uns Statuen und Denkmäler dort angucken, sehen wir nicht nur Sklavenhalter und Staatsmänner oder Generäle der Konföderation, sondern auch Denkmäler, die an rassistische Terrororganisationen erinnern und diese glorifizieren. Hier muss sich die amerikanische Gesellschaft schon fragen, ob sie in dieser Tradition weiter stehen will und ob sie ihrer großen schwarzen Minderheit diese Statuen auch zumuten will.

„In den USA wird versucht, Geschichte als geradlinige Entwicklung und als Fortschrittsgeschichte, des sogenannten american exceptionalism, zu erzählen.“

Inwiefern unterscheidet sich denn die aktuelle Situation in den USA von der in Deutschland?

Die historischen Vorbedingungen sind ein großer Unterschied. In den USA gab es die Existenz einer großen Sklaven haltenden Gesellschaft im Süden, die sogar einen Bürgerkrieg verursachte. Eine positive Sicht über diese Vergangenheit und ein starkes Festhalten an dieser ist im Süden der USA verbreitet. Eine Sklavenhaltergesellschaft im großen Stil und den Bürgerkrieg gab es in Deutschland nicht. Deutschland hat aber eine Kolonialgeschichte, die zwar nicht glorifiziert wird, aber sich zum Teil in Statuen widerspiegelt. In Deutschland gibt es außerdem einen größeren Konsens über die Verwendung von Symbolen. Ob NS-Symbole oder DDR-Symbole identitätsstiftend sein könnten, wird in Deutschland nicht diskutiert. Wohingegen es in den USA beispielsweise die Debatte über die Konföderiertenkriegsflagge gibt. 

Das heißt, es gibt auch ganz allgemeine Unterschiede in den Erinnerungskulturen?

Ja, hier ist vor allem der Unterschied, dass in den USA versucht wird, Geschichte als geradlinige Entwicklung und als Fortschrittsgeschichte, des sogenannten american exceptionalism, zu erzählen. Geschichte hat in Deutschland schon eher einen aufklärenden Charakter und kann allein wegen der NS-Zeit nicht geradlinig erzählt werden. Wenngleich natürlich jede Nation, auch Deutschland, das Bedürfnis hat, eine Nationalgeschichte zu erzählen. Natürlich haben wir auch in Deutschland blinde Flecken der Geschichte. Die koloniale Vergangenheit erfährt zum Beispiel kaum Aufmerksamkeit. Zudem haben Gedenkstätten in den USA oftmals einen patriotischen Eventcharakter. Diese sollen nicht unbedingt schlechte Laune machen und die USA in einem guten Licht dastehen lassen. Aktuell wird sich auch einer Debatte, Kasernen, die nach konföderierten Generälen benannt sind, umzubenennen, verweigert und diese als unpatriotisch abgestempelt.

„Das Entfernen führt zu einer Leerstelle und möglicherweise zu Vergessen.“

Finden Sie den Sturz von Denkmälern als Reaktion richtig?

Ich denke, dass wir in der aktuellen Debatte die historische Kontextualisierung nicht vergessen dürfen. Die Präsidenten Washington und Jefferson, von denen es in den USA zahlreiche Statuen gibt, hielten Sklaven und werden gerade deswegen angegriffen. Man muss aber bedenken, dass sie Teil von einer Sklaven haltenden Gesellschaft waren, im Kontext der Zeitgenossen also „normal“. Fast alle historischen Persönlichkeiten sind ambivalent. Lincoln, war nicht nur der große Präsident, der die Sklaverei beendet hat, er war auch ein Mensch seiner Zeit mit rassistischen Vorurteilen. Gegen seine Statuen vorzugehen, halte ich darum für überzogen. Statuen zu stürzen ist für mich etwas anderes als historische Personen kritisch zu sehen. Vor dem Abbau von Denkmälern sollte es außerdem einen Entscheidungsprozess geben. Zurzeit werden Statuen gestürzt, ohne dass eine Debatte Grundlage dafür ist. Das ist dann nicht demokratisch. Ich glaube, dass die Proteste das Bewusstsein geschärft haben und es eine gute Zeit ist, sich jetzt mit Erinnerungskultur politisch auseinander zu setzen.

Wie würden Sie denn problematische Denkmäler und Straßennamen kontextualisieren?

Natürlich gibt es immer die Möglichkeit, Statuen abzubauen oder Straßen umzubenennen. Bei Straßen denke ich, könnte eine Umbenennung so aussehen, dass man sie nicht nach Kolonialisten benennt, sondern nach Kämpfern gegen Rassismus und so auch durch diese Umwidmung für Aufmerksamkeit sorgt. Bei Denkmälern oder Statuen bin ich kein großer Freund vom Entfernen. Eine Gesellschaft hat natürlich das gute Recht sich zu entschließen, dass eine gewisse Statue entfernt werden soll, vor allem wenn es sich um ganz problematische Persönlichkeiten handelt. Es gibt aber noch andere Möglichkeiten, womit man eventuell ein bisschen mehr Aufmerksamkeit generieren könnte. Denn das Entfernen führt zu einer Leerstelle und möglicherweise zu Vergessen. Jürgen Zimmerer, ein Historiker aus Hamburg, hat vorgeschlagen, Statuen zu entfremden und beispielsweise auf den Kopf zu stellen. Das fand ich eigentlich eine ganz gute Idee, insbesondere wenn man diese künstlerisch weiterdenkt und mit historischer Aufklärung paart.

Sie haben angesprochen, dass auch Deutschland blinde Flecken in der Geschichte hat. Wie können wir diese aufarbeiten?

Als Historiker würde ich natürlich immer sagen, dass wir uns mehr und tiefer mit Geschichte, mit ihren Schattenseiten und den blinden Flecken beschäftigen müssen. Insofern muss man die Proteste auch als Chance begreifen, um hier nachzujustieren und sich auch der deutschen Kolonialvergangenheit zu stellen.

 

Zur Person

Dr. Jonas Anderson ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Neuere und Neueste Geschichte der Bundeswehr Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Nordamerikas von der Kolonialzeit bis ins 20. Jh., transatlantische Beziehungen, Empires und Kolonialisierungsprozesse sowie Aristokratie- und Elitengeschichte.

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