Foto: TUM/Andreas Heddergott

„Wir brauchen eine Wissenschaft, die sich frei entfalten kann.“

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Otmar D. Wiestler

Die Genschere CRISPR/Cas sorgt weiterhin für Furore. Inwiefern und in welchen Bereichen hat sie aus Ihrer Sicht das Potenzial, die Medizin zu revolutionieren?

Dieses Potenzial hat CRISPR/Cas9 ohne Zweifel. Mit der Genschere können DNA-Bausteine im Erbgut so einfach und präzise wie nie zuvor verändert werden – und das in nahezu allen lebenden Zellen. In nur wenigen Jahren hat dieses molekulare Werkzeug deshalb auch Einzug in die Labore weltweit gefunden und wird in zahlreichen Forschungsbereichen von der Pflanzenzüchtung bis zur Medizin eingesetzt.

CRISPR/Cas9 ist eine faszinierende Technologie. Sie hat nicht nur das Arbeiten in den Laboren revolutioniert. Sie wird auch die Medizin entscheidend verändern. Die neue Technologie könnte künftig zahlreichen Patienten helfen. Hier gibt es vor allem die Hoffnung, dass die Genschere therapeutisch bei Erbkrankheiten eingesetzt werden könnte, etwa bei Mukoviszidose. Ein besonders großes Potenzial sehe ich in der Kombination von CRISPR/Cas9 mit Stammzell-basierten Zelltherapien. In Zellkulturen konnten Forscher die Krankheit bereits erfolgreich bekämpfen. Weiterhin könnte das System dazu genutzt werden, Genome von Krankheitserregern chronischer Infektionskrankheiten wie des Hepatitis-B-Virus und des HI-Virus zu entfernen. Auch bei der Behandlung von Krebs konnten schon Erfolge erzielt werden, indem mithilfe von CRISPR/Cas9 in Immunzellen ein bestimmtes Gen ausgeschaltet wurde, das als Bremse bei der Krebsbekämpfung agiert. Die Anwendungsbereiche der Genschere sind außerordentlich vielfältig. Ich bin mir sicher, dass in den nächsten Jahren noch viele herausragende Forschungsergebnisse präsentiert werden, die nur mithilfe des CRISPR/Cas9-System ermöglicht wurden.

„Nach meiner Meinung sollte sich die internationale Gemeinschaft darauf verständigen, solche Eingriffe in die menschliche Keimbahn zu unterbinden.“

Welche Risiken bringt der Einsatz der Technologie mit sich und wie bewerten Sie die kritischen Stimmen?

Bei der klassischen Züchtung und Gentechnik spielt der Zufall eine große Rolle. Ein solches Risiko zufälliger oder unbeabsichtigter Veränderungen ist bei der Genschere CRISPR/Cas9 weitgehend ausgeschlossen. Die Sicherheit und Präzision, die das System schon jetzt auszeichnet, wird zudem stetig verbessert. Einige Kritiker sehen das Risiko, dass praktisch jeder Laie das System nutzen kann, ohne die kontrollierten Bedingungen, die in einem Labor herrschen. Dieses Risiko darf man aus meiner Sicht nicht unterschätzen.

Daneben gibt es ernstzunehmende ethische Fragen. Viele Kritiker befürchten, dass Eingriffe in die menschliche Keimbahn unvorhersehbare Folgen auf nachfolgende Generationen haben könnten. Wissenschaftler – darunter auch die Erfinder der Technik – haben sich deshalb 2015 auf ein Moratorium für die Anwendung von CRISPR/Cas9 bei der Veränderung von Keimbahnzellen ausgesprochen. In Deutschland schränkt das Embryonenschutzgesetz Keimbahn-Versuche ein. Andere Länder sind dabei offener, zum Beispiel die USA und China. US-Forschern ist es jüngst gelungen, mithilfe von CRISPR/Cas9 das Gen für eine Herzkrankheit in menschlichen Embryonen zu reparieren. Nach meiner Meinung sollte sich die internationale Gemeinschaft darauf verständigen, solche Eingriffe in die menschliche Keimbahn zu unterbinden. Die Risiken sind aus heutiger Sicht einfach zu groß.

Braucht es aus Ihrer Sicht klarere Regeln für den Einsatz der Technologie und wie könnte eine solche Regulierung aussehen, ohne den Fortschritt einzubremsen?

Wissenschaftlicher Fortschritt kann zu unserem Wohl und Wohlstand nur beitragen, wenn er von einem hohen Maß an Verantwortung getragen ist. Regelungen für neu entdeckte Technologien laufen dabei häufig auf einen Kompromiss hinaus: Dieser muss einerseits den Stand der Wissenschaft berücksichtigen, andererseits unsere ethischen Standards. Das ist natürlich keine leichte Aufgabe. Ich bin überzeugt, dass man wissenschaftliche Erkenntnisse nicht einmauern und ihre Entwicklung auch nicht verbieten kann. Wir brauchen eine Wissenschaft, die sich frei entfalten kann. In Deutschland werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gut darin ausgebildet, ethische Standards zu berücksichtigen. Ein entsprechender Kodex, dem sich alle unterziehen – ähnlich dem hippokratischen Eid in der Medizin – wäre auch für Forscher denkbar. Darüber habe ich vor einigen Wochen mit dem Physiker und Wissenschaftsmoderator Ranga Yogeshwar diskutiert. Angesichts der weitreichenden Wirkungen wissenschaftlicher Erkenntnisse könnte man durchaus darüber nachdenken, wie wissenschaftsethische Prinzipien in unseren Ausbildungsprogrammen künftig im hippokratischen Sinn vermittelt werden.

„Ich sehe tatsächlich eine Gefahr, dass Deutschland den Anschluss auf diesem Feld erneut verlieren könnte.“

Inwiefern ist der gesellschaftliche Dialog im Umgang mit solchen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen wichtig?

Ein ebenso sachlicher wie offener Dialog mit der Gesellschaft ist unverzichtbar. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stehen hier in der Pflicht, den Nutzen neuer Methoden aufzuzeigen und zum Beispiel zu erklären, welche völlig neuartigen Behandlungen durch bestimmte Methoden in Zukunft möglich sind. Dazu gehört es selbstverständlich auch, mögliche Risiken kritisch offen darzulegen. Unsere Verpflichtung ist es, auf beide Seiten einer neuen Entdeckung hinzuweisen und Wege für einen verantwortlichen Umgang mit neuen Technologien aufzuzeigen.

In Deutschland wird Gentechnik oft kritischer gesehen als im Ausland. Drohen wir den Anschluss zu verlieren?

In Deutschland gehen wir mit bioethischen Fragen traditionell sehr zurückhaltend um. Dies ist aus unserer jüngeren Geschichte nur allzu gut nachvollziehbar. Allerdings hat diese Haltung mehrfach dazu geführt, dass wir wichtige Entscheidungen zu spät vollzogen haben. Ich denke dabei unter anderem an die rote und die grüne Gentechnik. Ich sehe tatsächlich eine Gefahr, dass Deutschland den Anschluss auf diesem Feld erneut verlieren könnte. Meiner Meinung nach ist umgehend eine differenzierte Debatte notwendig, die sich verantwortungsvoll mit dem Thema CRISP/Cas9 auseinandersetzt und rasch zu Lösungen kommt. Die Leopoldina und der Nationale Ethikrat haben bereits eindrücklich darauf hingewiesen.

Zur Person

Der Neuropathologe Prof. Dr. Otmar D. Wiestler ist Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft.

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