Eine gerechte Verteilung muss auf dem Bedarf basieren
„Der Weg von reinem Impfstoffnationalismus hin zu internationaler Kooperation über COVAX ist natürlich schon ein riesiger Schritt – es könnte aber noch besser gehen”, sagt Herzog. Die Philosophin und Sozialwissenschaftlerin bewertet insbesondere den von der WHO vorgeschlagenen proportionalen Verteilungsmechanismus kritisch: „Das sieht vollkommen davon ab, was die eigentliche Gefährdungslage und die konkreten Risiken, zu dem Zeitpunkt, an dem der Impfstoff dann verfügbar ist, sein werden. Wenn die WHO das ethische Prinzip der Gerechtigkeit oder Fairness wirklich ernst nimmt, dann ist diese sture Verteilung an drei Prozent und 20 Prozent der Bevölkerungen nicht die beste Lösung, dann müsste man nach dem Bedarf gehen.” Schließlich seien die Dinge, die auf dem Spiel stehen, aufgrund einer ungleichen und ungerechten Weltordnung sehr verschieden. „Während die einen derzeit vielleicht auf Restaurantbesuche und Fernreisen verzichten müssen, geht es für andere ums nackte Überleben”, sagt Herzog.
Gemeinsam mit anderen Wissenschaftler*innen hat Herzog deshalb das „Fair Priority Model” entwickelt, das im September im Magazin „Science” vorgestellt wurde. Das Modell nimmt drei grundlegende ethische Prinzipien als Ausgangspunkt: erstens Menschen nutzen und Schaden begrenzen, zweitens Benachteiligte priorisieren und drittens gleiche moralische Berücksichtigung aller. Auf Basis dieser Prinzipien wurde ein Drei-Phasen-Modell aufgebaut. Die erste Phase zielt darauf ab, Todesfälle und andere irreversible direkte oder indirekte Gesundheitsfolgen zu verhindern. Dafür sollen Herzog zufolge Impfstoffe dorthin geliefert werden, wo je nach aktuellem Pandemiegeschehen die meisten Todesfälle, insbesondere von jüngeren Menschen, zu erwarten sind. In der zweiten Phase wird zusätzlich darauf fokussiert, schwerwiegende wirtschaftliche und soziale Einschränkungen zu reduzieren. In der dritten Phase soll die Impfstoffverteilung schließlich darauf abzielen, Übertragungen zu reduzieren, um die vor der Pandemie bestehenden Freiheiten sowie wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten wieder zu ermöglichen.
Die Priorisierung von medizinischem Personal folgt nicht aus dem Modell. „Das liegt zum einen daran, dass bei einer guten Ausstattung des Personals die Ansteckungsgefahr nicht unbedingt erhöht ist und es stärker gefährdete Risikogruppen gibt”, sagt Herzog. „Zum anderen würde die Priorisierung des medizinischen Personals Länder mit gut ausgebauten Gesundheitssystemen und mehr medizinischem Personal priorisieren. Wir glauben nicht, dass durch eine solche Priorisierung die Zahl der durch die verfügbaren Impfdosen rettbaren Leben optimiert würde”. Sie hofft, dass sich die WHO noch überzeugen lässt, einen stärker bedarfsbasierten Verteilungsschlüssel wie den des Fair Priority Models anzuwenden.
Über Logistik und Profit
Neben nationalen Egoismen und Uneinigkeiten bei moralischen Fragestellungen gibt es noch weitere Schwierigkeiten bei der Impfstoffverteilung. „Die logistischen Herausforderungen sollte man nicht kleinreden”, sagt Glaeske. Dabei seien sowohl die Temperaturbedingungen, unter denen die jeweiligen Impfstoffe gelagert und transportiert werden müssen, als auch die relativ engen Haltbarkeitszeiträume zu beachten. Die infrastrukturellen Voraussetzungen für Lagerung und Transport der Impfstoffe sind nicht in allen Regionen der Welt gegeben. Deshalb könnten die logistischen Herausforderungen dazu beitragen, bestehende globale Ungleichheiten auch in der Frage des Zugangs zu Covid-19-Impfstoffen zu zementieren. „Bei der Verteilung muss auf jeden Fall vermieden werden, dass Impfdosen verderben – beispielsweise, weil die Kühlketten nicht eingehalten werden können – und somit knappe Ressourcen verschwendet werden”, sagt Herzog. Um allen Menschen Zugang zu den Impfstoffen zu ermöglichen, müsse deshalb die Weltgemeinschaft in die Pflicht genommen werden, schlechter ausgestattete Länder beim Aufbau der erforderlichen Infrastruktur zu unterstützen.