„Der Grundsatz der Gerechtigkeit oder Rechtsgleichheit bedeutet für die Impfstoffverteilung zum einen, dass keine inakzeptablen Differenzierungskriterien, also Kriterien, die auf Schwere und Verlauf der Krankheit keinen Einfluss haben – beispielsweise die ethnische Herkunft – angewendet werden dürfen”, sagt Rostalski. „Zum anderen müssen wir schauen, wo wir es mit wesentlich ungleichen Fällen zu tun haben. Es ist gerechtfertigt, eine Person, die eine besondere Vulnerabilität im Hinblick auf COVID-19 hat, gegenüber einer Person, die kein besonderes Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf hat, bevorzugt zu behandeln. Denn der Grundsatz der Rechtsgleichheit besagt, dass man wesentlich gleiches gleich, im Umkehrschluss aber auch wesentlich ungleiches ungleich behandeln muss”, fügt die Rechtswissenschaftlerin hinzu.
Nach dem ethischen Prinzip der Solidarität müssen weniger gefährdete Personen den eigenen Anspruch auf eine Impfung zeitweilig zurückstellen, um solidarisch gegenüber stärker gefährdeten Personen zu handeln. Rostalski fordert, dass diese Solidarität auch denjenigen Personen entgegengebracht werden sollte, die beispielsweise beruflich einem höheren Risiko ausgesetzt sind: „Wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die sich beruflich oder auch privat stark einem Risiko aussetzen, kommt darin Solidaritätsbereitschaft zum Ausdruck. Diese Menschen stellen ihren eigenen Schutz in gewissem Umfang zurück. Das muss gesellschaftliche Berücksichtigung finden.”
Schließlich müsse sich eine gerechte Priorisierung nach der Dringlichkeit des vorbeugenden Gesundheitsschutzes für die jeweiligen Betroffenen richten. „Das Prinzip der Dringlichkeit ermöglicht es, auch innerhalb der zu priorisierenden Gruppen weiter zu differenzieren, wer zuerst geimpft werden sollte”, sagt Rostalski.
Erste Rahmenkriterien für eine mögliche Priorisierung wurden inzwischen aufgestellt. Eine Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der Ständigen Impfkommission (STIKO), des Deutschen Ethikrates und der Leopoldina hat unter dem Titel „Wie soll der Zugang zu einem COVID-19-Impfstoff geregelt werden?” ein Positionspapier veröffentlicht. Noch vor Jahresende soll die STIKO eine detaillierte Priorisierungsempfehlung vorlegen, die auf dem gemeinsamen Positionspapier und aktuellen wissenschaftlichen Daten basiert.