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„Es ist verfassungskonform, so viele Leben wie möglich zu retten”

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Jochen Taupitz

Wenn ein Covid-19-Impfstoff auf den Markt kommt, wird er voraussichtlich zunächst nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Es muss also entschieden werden, wer den Impfstoff zuerst bekommt. Welche Akteure entscheiden in Deutschland über die Allokation eines solchen zukünftigen Corona-Impfstoffes?

Derjenige Akteur, der den Impfstoff kauft, kann auch darüber entscheiden, wie und an wen der Impfstoff verteilt wird. Wenn der Bund also den Vertrag mit dem Hersteller schließt, ist er entscheidungsbefugt. Er ist allerdings gut beraten, die Entscheidung über die Allokation transparenten und fairen Regeln folgen zu lassen. Und ganz praktisch wird er bei der Umsetzung auf Behörden der Länder, etwa die Gesundheitsämter, zurückgreifen müssen.

„Die grundsätzlichen Kriterien der Verteilung müssten noch vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber festgelegt werden.“

Welche rechtlichen Grundlagen für die Allokation eines knappen Impfstoffes gibt es in Deutschland und wie könnten Entscheidungen zur Impfallokation demokratisch legitimiert werden? 

Bisher bestehen keine speziellen gesetzlichen Regeln für eine Allokation. Die grundsätzlichen Kriterien der Verteilung müssten noch vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber festgelegt werden. Denn nach der Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich hierbei um eine für die Gesellschaft und die Grundrechte der einzelnen Bürger wesentliche Entscheidung, die deshalb der parlamentarische Gesetzgeber zumindest in den Grundzügen selbst treffen muss. Dabei könnte er zum Beispiel – wie im Transplantationsgesetz – Dringlichkeit und Erfolgsaussicht als zentrale Kriterien festlegen. Beide Kriterien könnten sowohl individuell, also bezogen auf den einzelnen Betroffenen, als auch über-individuell, dann bezogen auf die Gesellschaft beziehungsweise das Gesundheitssystem, verstanden werden.

Was wären aus verfassungsrechtlicher Sicht zulässige Kriterien für die Allokation von Impfstoffen?

Alle Kriterien, die in Artikel 3 des Grundgesetzes genannt sind, dürfen nicht Grundlage einer Benachteiligung sein: Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glaube, religiöse oder politische Anschauungen, Behinderung. Im Übrigen lässt das Grundgesetz aber einen weiten Spielraum. So ist es beispielsweise durchaus zulässig, Personen mit besonders hohem arbeitsbedingtem Infektionsrisiko, insbesondere auch Personen, die für die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems von zentraler Bedeutung sind, vorrangig zu impfen.

„Zwei Menschenleben sind mehr wert als eines. Sie werden nicht „gegeneinander“ abgewogen, sondern es geht um die Wirksamkeit der zur Lebensrettung eingesetzten medizinischen Maßnahme.“

Viele Empfehlungen zur Allokation eines knappen Impfstoffes folgen der sogenannten Maximierungsformel. Der Impfstoff soll demnach so verteilt werden, dass die Zahl der Überlebenden maximiert wird. Steht die Maximierungsformel dem verfassungsrechtlichen Grundsatz entgegen, dass Menschenleben nicht gegeneinander abwägbar sind?

Nein, aus meiner Sicht ist es sehr wohl verfassungskonform, so viele Leben wie möglich zu retten. Zwei Menschenleben sind mehr wert als eines. Sie werden nicht „gegeneinander“ abgewogen, sondern es geht um die Wirksamkeit der zur Lebensrettung eingesetzten medizinischen Maßnahme.

In einem Aufsatz schreiben Sie, dass die Einschätzung des Ethikrates, der Staat dürfe nicht entscheiden, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten ist, von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz geprägt ist. Warum ist diese Entscheidung Ihrer Ansicht nach nicht auf die Allokation knapper Ressourcen im Pandemiefall übertragbar?

In jener Entscheidung ging es um den staatlich angeordneten Abschuss eines von Terroristen entführten und als Waffe missbrauchten Flugzeugs, also um eine eigene Maßnahme des Staates, durch die das Leben der Besatzung und der Passagiere gezielt und aktiv beendet werden würde, um andere Menschenleben zu retten. Bei einer für den Pandemiefall getroffenen Regelung werden dagegen Kriterien vorgegeben, nach denen in einer Mangelsituation bestimmte Menschen vorrangig vor anderen mit medizinischen Gütern versorgt werden und andere stattdessen nachrangig gerettet werden. In das Leben der nachrangig Versorgten wird dabei nicht aktiv eingegriffen; vielmehr bleiben sie ihrem Schicksal überlassen und sterben gegebenenfalls an ihrer Krankheit.

Zur Person

Prof. Dr. Jochen Taupitz ist Seniorprofessor für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Mannheim. Außerdem ist er geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Medizin- und Gesundheitsrecht.

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