Noch gibt es keinen Corona-Impfstoff. Trotzdem stellt sich schon jetzt die Frage, in welcher Reihenfolge die Bürger*innen einen Impfstoff erhalten, wenn er zur Verfügung steht. Diese Frage muss schlussendlich die Politik beantworten, denn aus wissenschaftlicher Sicht gibt es unterschiedliche Ansätze. Wir haben die Parteien des Bundestages zu der Verteilung eines Impfstoffes gegen das Coronavirus befragt. Dazu haben wir Antworten von der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der DIE LINKE erhalten.
Vertreter*innen der Parteien verweisen hinsichtlich der ethischen Komplexität der Fragestellung auf die vorzubereitenden Empfehlungen aus der Wissenschaft. Bereits jetzt gibt die beim Robert-Koch-Institut (RKI) angesiedelte Ständige Impfkommission (STIKO) gemäß § 20 Abs. 2 Satz 3 des Infektionsschutzgesetzes Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen. Dementsprechend hat die STIKO in Zusammenarbeit mit dem Ethikrat, der Leopoldina Akademie der Wissenschaften und dem Paul-Ehrlich-Institut bereits am 9. November 2020 ein erstes Positionspapier mit entsprechenden Empfehlung über den Zugang und die Verteilung eines Corona-Impfstoffes veröffentlicht. „Das ist auch richtig so, denn diese Entscheidung muss in erster Linie wissenschaftlich und ethisch abgesichert und epidemiologisch sinnvoll sein”, so Sabine Dittmar, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Bundestag.
Auf dieselben Akteure beruft sich auch Karin Maag, gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag: „Wie die konkrete Verteilung und Berücksichtigung aussehen kann, wird derzeit intensiv beraten – neben der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut (RKI), die gesetzlich für Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen zuständig ist, hat der Bundesgesundheitsminister auch den Deutschen Ethikrat und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina beauftragt, Kriterien für eine Prioritätensetzung zu erarbeiten. Laut Informationen des Robert Koch-Instituts wird sich die STIKO unter anderem auf mathematische Modellierungen stützen, die unter Berücksichtigung der Impfstoffeffektivität und dem Erkrankungsrisiko den effizientesten Einsatz bei begrenzten Impfstoffressourcen abbilden. Daneben müssen auch ethische Gesichtspunkte berücksichtigt werden.“
Losgelöst von den auszuarbeitenden Empfehlungen, regen Vertreter*innen der Parteien auch eine politische Entscheidung an. Diese müsse jedoch erst noch getroffen werden. „Es steht in der Tat fest, dass wir, wenn wir vielleicht schon zum Ende diesen Jahres, ansonsten aber Anfang 2021, einen oder sogar mehrere Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 zur Verfügung haben, nicht unsere gesamte Bevölkerung sofort werden impfen können. Insofern muss eine Entscheidung darüber getroffen werden, welche Bevölkerungsgruppen in einem ersten Schritt zu berücksichtigen sind”, so Dittmar (SPD).
Karin Maag (CDU/CSU) äußert sich auch dazu, welche Bevölkerungsgruppen bei der Verteilung priorisiert behandelt werden sollten: „Sobald ein sicherer und wirksamer Impfstoff gegen das Coronavirus zur Verfügung steht, müssen Wege gefunden werden, um insbesondere die Menschen zu schützen, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben. So sollten bei einem vermutlich zunächst nur eingeschränkt verfügbaren Impfstoff aus meiner Sicht erst einmal insbesondere Menschen mit Vorerkrankungen und chronisch kranke Menschen berücksichtigt werden. Um die Weiterverbreitung des Virus möglichst effektiv zu verhindern, könnte es auch sinnvoll sein, bereits zu Beginn die Mitarbeiter*innen in Pflegeheimen oder Krankenhäusern zu impfen.”
Eine ähnliche Meinung vertritt auch Dr. Achim Kessler, gesundheitspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag: „Impfstoffe, die mit öffentlichen Geldern gefördert und hergestellt werden, müssen in staatlicher Verantwortung liegen und dürfen nicht entlang der Profitinteressen der Pharmakonzerne verteilt werden. Die Priorität muss auf dem Zugang für das Gesundheitspersonal und den Risikogruppen liegen. Wir dürfen auf keinen Fall in Impfstoffnationalismus verfallen!”
Sabine Dittmar (SPD) unterstützt Kessler (DIE LINKE) ebenfalls in seiner Ansicht: „Aus meiner Sicht kommt es darauf an, vor allem die Menschen zu schützen, die ein hohes Risiko für einen schweren Verlauf einer SARS-CoV-2-Infektion haben, also beispielsweise chronisch kranke Patient*innen. Darüber hinaus ist es wichtig, medizinisches und pflegerisches Personal abzusichern. Alles Weitere wird von der Menge des verfügbaren Impfstoffs abhängen.”
Prof. Andrew Ullmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestages, regt zusätzlich eine Debatte um eine international sinnvolle Verteilung eines Corona-Impfstoffes an: „Voraussichtlich sind Risikogruppen und Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen zunächst zu priorisieren. Angesichts Deutschlands Rolle in der Welt, ist auch die ethische Frage zu klären, ab welchem Punkt in der Impfkaskade die globale Verantwortung vor dem nationalen Alleingang tritt. Eine Impfung von Risikopatient*innen in stärker betroffenen Ländern wird einen höheren gesundheitlichen Nutzen bringen, als eine Impfung von Niedrigrisikopatient*innen in Deutschland.“ Diese Überlegungen dürfen laut Ullmann nicht außer Acht gelassen werden.
Die internationalen Bedürfnisse, auf die bei der Verteilung eines Corona-Impfstoffes geachtet werden sollte, stellt auch Dr. Achim Kessler (DIE LINKE) in den Vordergrund. Nur so könne es zu einer weltweit fairen Verteilung in der Bevölkerung kommen: „Geberländer wie Deutschland sind in der Pflicht, Staaten des globalen Südens und auch Staaten mit hohen Infektionsraten einen fairen Zugang zu Corona-Impfstoffen zu ermöglichen. Ein funktionierender Koordinierungsmechanismus muss geschaffen werden, bei dem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als zentrale öffentliche Instanz in der globalen Gesundheitspolitik eine führende Rolle einnimmt. Um weltweit eine flächendeckende und effektive Versorgung mit potenziellen Impfstoffen oder mit Medikamenten sicherstellen zu können, muss auf exklusive Nutzungslizenzen und Patentierungen verzichtet werden. Die geistigen Eigentumsrechte sollen dabei in öffentlicher Hand gehalten werden, damit nicht nur solche Präparate auf den Markt gebracht werden, von denen sich die Hersteller die größten Profite versprechen, sondern solche, die sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung ausrichten. Wir können uns aber nicht ausschließlich auf den Einsatz eines Impfstoffes verlassen, entscheidend ist auch weiterhin, Infektionsketten im Rahmen einer umfassenden Teststrategie wirksam zu unterbrechen.”
Zudem spielen laut Ullmann (FDP) auch eine durchdachte Struktur und erfahrene Institutionen für die Zeit nach der Impfstoff-Freigabe eine entscheidende Rolle: „Die Bundesregierung suggeriert gerne, dass die Coronavirus-Pandemie mit der Zulassung eines Impfstoffes enden wird. Die Einführung eines Impfstoffes leitet lediglich die nächste Stufe in der globalen Pandemiebekämpfung ein. Für diese Phase benötigen wir eine wissenschaftlich-fundierte und nachvollziehbare Impfstrategie, die sowohl politisch als auch gesellschaftlich legitimiert ist. Wir müssen Strukturen u.a. für Transport, Verteilung und Lagerung der Impfstoffe schaffen. Dies betrifft darüber hinaus auch Entscheidungen zur Frage von entsprechenden regionalen und mobilen Impfeinrichtungen. Solange der Impfstoff nur in begrenztem Maße zur Verfügung steht, sollte vor allem an Institutionen mit entsprechenden Erfahrungen geimpft werden, hierzu würden auch ambulante Impfmöglichkeiten gehören, die von den Institutionen beauftragt werden. Sobald der Impfstoff in einem ausreichenden Maße zur Verfügung steht, müssen die Impfangebote für alle freiwillig und niedrigschwellig erreichbar sein. Eine ethische Herausforderung ist die Impfkaskade, denn sie legt die Impfreihenfolge der Bevölkerung fest. Diese muss wissenschaftlich ausgearbeitet und begründet werden.”
Bis ein Impfstoff also tatsächlich gefunden und zugelassen ist, bleiben die Fragen hinsichtlich der Priorisierung, Verteilung und der logistischen Herausforderungen noch bestehen. Und somit auch das Potential für eine ernsthafte politische Debatte.