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Wer zuerst?

Impfstrategien und Modelle für eine Corona-Impfung

Anfang 2021 könnte er da sein, der große Hoffnungsträger im Kampf gegen das Corona-Virus. Zumindest rechnen die Zulassungsbehörden, Pharmaunternehmen und auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn für diesen Zeitpunkt mit der Zulassung eines Impfstoffes gegen das Virus. Gewonnen ist der Kampf dann allerdings noch lange nicht, denn zumindest am Anfang werden die Impfstoffdosen nicht ausreichen, um alle Menschen zu impfen. Deshalb entwickelt die Ständige Impfkommission (STIKO) des Robert-Koch-Instituts derzeit gemeinsam mit dem Deutschen Ethikrat und der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften Kriterien, die für eine Priorisierung in der Impffrage beachten werden sollten.

„Im Mittelpunkt der Frage der Priorisierung steht die Minimierung von gesellschaftlichen Folgen durch SARS-CoV-2-Infektionen in der Gesamtbevölkerung.”

Prof. Dr. André Karch, Leiter der Klinischen Epidemiologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

„Im Mittelpunkt der Frage der Priorisierung steht die Minimierung von gesellschaftlichen Folgen durch SARS-CoV-2-Infektionen in der Gesamtbevölkerung”, sagt Prof. Dr. André Karch, Leiter der Klinischen Epidemiologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Insbesondere Todesfälle und schwere Verläufe gelte es zu verhindern, so der Epidemiologe. Auch die STIKO formuliert dies als Hauptziel eines Verteilungsmechanismus. Ebenso nennt das Bundesgesundheitsministerium in der „Nationalen Impfstrategie COVID-19”  den Schutz besonders „vulnerabler Bevölkerungsgruppen” explizit als Ziel.

Weitaus weniger Klarheit besteht darüber, wie dieser Schutz tatsächlich erreicht werden kann. „Die Frage, welche Strategie aus epidemiologischer Sicht dafür die erfolgsversprechendste ist, lässt sich momentan gar nicht beantworten, denn sie ist von einer Vielzahl an Informationen über den Impfstoff abhängig”, so Karch. „Bislang wissen wir noch nicht einmal, ob die Impfstoffe primär die Infektionen von SARS-CoV-2 verhindern, oder besonders die schweren Verläufe von Covid-19 abmildern” sagt Prof. Dr. Barbara Rath, Vorstandsvorsitzende und Gründerin des wissenschaftlichen Medizin-Thinktanks Vienna Vaccine Safety Initiative (ViVI).

„Es ist durchaus möglich, dass die allerersten verfügbaren Impfstoffe vor allem versuchen, die Symptome abzumildern, andere Impfstoffe aber auch auf die Unterbrechung der Infektionsketten abzielen.“

Prof. Dr. Barbara Rath, Vorstandsvorsitzende und Gründerin des wissenschaftlichen Medizin-Thinktanks Vienna Vaccine Safety Initiative (ViVI)

Die Medizinerin rechnet ohnehin damit, dass nicht nur einer, sondern eventuell sogar mehrere Impfstoffe etwa zeitgleich eine Zulassung bekommen werden. „Es ist durchaus möglich, dass die allerersten verfügbaren Impfstoffe vor allem versuchen, die Symptome abzumildern, andere Impfstoffe aber auch auf die Unterbrechung der Infektionsketten abzielen. Daher ist es wichtig zu verstehen, dass nicht jeder Impfstoff notwendigerweise das gleiche Ziel verfolgt und nicht immer durch einen Impfstoff alle Bevölkerungsgruppen gleich geschützt werden können.”

Doch nicht nur die Frage nach dem Ziel der Impfung steht noch aus. Aktuell befinden sich eine Reihe an Impfstoffkandidaten in den entscheidenden Phase-3-Studien – der letzte Schritt vor dem Zulassungsverfahren, der wichtige Erkenntnisse liefert wie effektiv der Impfstoff wirkt und wie sicher dieser ist. Erst mit diesem Wissen lässt sich auch die richtige Impfstrategie finden.

Einigkeit besteht weitestgehend bei der Überlegung, medizinisches Personal möglichst schnell zu impfen. „Wenn insgesamt die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie minimiert werden sollen, ist eine Impfung des Personals in den Krankenhäusern essentiell. Denn nur so kann das Versorgungssystem aufrecht erhalten werden”, sagt Karch. Darüber hinaus existieren zwei mögliche Priorisierungen, die epidemiologisch sinnvoll erscheinen: „Eine mögliche Strategie wäre, die Krankheitslast im Individuum zu minimieren – das heißt man würde die Personen impfen, die das höchste Risiko für schwere Erkrankungen haben”, so Karch. Im Fall von Covid-19 würden also ältere Personen mit Vorerkrankungen zuerst geimpft werden.

 „Je effektiver der Impfstoff, desto größer sind auch die indirekten Effekte einer Impfstrategie und desto sinnvoller wäre es auch, nicht nur die Risikogruppen zu impfen, sondern auch Personen, die besonders zur Übertragung beitragen.”

Prof. Dr. André Karch, Leiter der Klinischen Epidemiologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Demgegenüber steht der Transmissionsansatz: Nach diesem werden Bevölkerungsgruppen priorisiert, die besonders dazu beitragen, dass sich die Infektionen ausbreiten. So könnte dann das Infektionsgeschehen in der Bevölkerung insgesamt unterbunden werden und gleichzeitig die Risikogruppen auf indirektem Wege geschützt werden. Allerdings ist dieser Ansatz mit deutlich mehr Unsicherheit verbunden: Der Impfstoff muss in dem Fall gegen die Infektion wirken, nicht nur gegen die Erkrankung, er muss von der Bevölkerung breit angenommen werden und es muss geklärt sein, wo tatsächlich die Infektionen mehrheitlich stattfinden. „Je effektiver der Impfstoff, desto größer sind auch die indirekten Effekte einer Impfstrategie und desto sinnvoller wäre es auch, nicht nur die Risikogruppen zu impfen, sondern auch Personen, die besonders zur Übertragung beitragen”, so Karch.

Solange allerdings die wesentlichen Erkenntnisse zur Effektivität der Impfstoffe fehlen, lässt sich die Frage einer empfohlenen Priorisierung nur theoretisch beantworten. Mathematische Modelle versuchen anhand bereits verfügbarer Daten und bestimmbarer Parameter, die Verteilungsfrage zu optimieren. „Damit kann in verschiedenen Szenarien simuliert werden, wie eine Impfstrategie aufgebaut sein müsste und welche Priorisierung sinnvoller erscheint”, so Rath. Bereits im August erhielt ein erstes von US-Wissenschaftlern veröffentlichtes Transmissionsmodell viel Aufmerksamkeit. Dieses kam, ähnlich wie auch das aktuelle Modell des Imperial College London,  zu dem Ergebnis, dass es bei einer geringeren Wirksamkeit des Impfstoffes optimal sei, zunächst ältere Altersgruppen zu impfen. Bei einer höheren Wirksamkeit des Impfstoffs hingegen sollten nach dem Modell zuerst jüngere Altersgruppen geimpft werden. Also jene Gruppen, die das Virus in besonderem Maße verbreiten.

„Insgesamt ist die Frage, welche Gruppe zuerst geimpft werden sollte, gar nicht so polarisiert, wie sie aktuell scheint.“

Prof. Dr. Barbara Rath, Vorstandsvorsitzende und Gründerin des wissenschaftlichen Medizin-Thinktanks Vienna Vaccine Safety Initiative (ViVI)

„Insgesamt ist die Frage, welche Gruppe zuerst geimpft werden sollte, gar nicht so polarisiert, wie sie aktuell scheint. Denn sämtliche Modelle stehen vielmehr nebeneinander und zeigen mögliche Lösungsvorschläge auf”, sagt Rath. “Modelle haben den Vorteil, dass sie auch aufzeigen können, wann ein Strategiewechsel von direkten hin zu indirekten Effekten vollzogen werden sollte”, so Karch. Doch auch er schränkt die Aussagekraft der Modelle ein, denn ethische und moralische Abwägungen müssten ebenfalls in die Entscheidung der Priorisierung mit einbezogen werden und das können Modelle nicht leisten.

Beide Experten sind sich einig, dass der Impfstoff letztlich nur ein Teil der langfristigen Strategie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sein kann. „Ebenso wichtig ist für mich die Frage, wie eine Impfung mit anderen medizinischen Maßnahmen im Einklang steht. Denn Impfstoffe ist nur ein wichtiger Aspekt zur Eindämmung der Pandemie neben Diagnostik und Therapie”, so Rath. Daher, so die Medizinerin, werde es vermutlich auch im kommenden Jahr noch Einschränkungen im öffentlichen Leben geben. Denn eine Impfung der Bevölkerung – unabhängig davon mit welcher Bevölkerungsgruppe begonnen würde – braucht sehr viel Zeit.

 

Aktualisierung

Am 9. November 2020 wurde das Positionspapier der gemeinsamen Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der STIKO, des Deutschen Ethikrats und der Leopoldina unter dem Titel „Wie soll der Zugang zu einem COVID-19-Impfstoff geregelt werden“ veröffentlicht.

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