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Überschätzte Technik – unterschätzte Folgen

Prof. Dr. Marion Baldus über nicht invasive Pränataltests (NIPT), die neuerdings Kassenleistung sind

Frau Prof. Baldus, Bluttests für Schwangere auf ein Down-Syndrom und andere Trisomien beim Kind werden jetzt von Krankenkassen bezahlt. Sie gelten als Kritikerin dieser Tests. Warum?

Ich kritisiere den völlig unregulierten Einsatz nicht invasiver Pränataltests (NIPT). Das Angebot ist unendlich weit, aber schwangere Frauen werden nicht vernünftig informiert darüber, was die Tests können – und was nicht. Die meisten Paare informieren sich auf Websites der Pharmaindustrie oder in Foren für werdende Eltern. Neutrale und gesicherte Informationen fehlen ihnen. Das hängt auch damit zusammen, dass nicht invasive Pränataltests ohne Aufsicht einer kontrollierenden Behörde frei auf dem Markt angeboten werden dürfen.

Welches Wissen fehlt?

Die Technik von NIPT wird deutlich überschätzt. Studien aus den Niederlanden zeigen, dass bei Tests, die nach genetischen Anzeichen für eine Behinderung oder Beeinträchtigung suchen und dafür das komplette Genom untersuchen, die Fehlerquote bei 89 Prozent liegt. Das heißt, dass von 100 Frauen 89 Frauen unnötigerweise beunruhigt wurden, sie könnten ein Kind mit einer Behinderung gebären. In Deutschland soll zwar nur ein eingeschränkter Test Kassenleistung werden, der die Trisomien 21, 13 und 18 erkennen soll. Das komplette Genom können Frauen aber auch hierzulande – auf eigene Kosten – untersuchen lassen.

Wie viele Schwangere entscheiden sich für einen NIPT?

In Deutschland gibt es dazu keine Statistiken. In den Niederlanden, wo die Untersuchung mit einem Eigenanteil 175 Euro allen Frauen – unabhängig von ihrem Alter oder besonderen Risiken – als kassenfinanzierte Leistung angeboten wird, sind es laut den neuesten Zahlen 46 Prozent aller Schwangeren. Also fast jede zweite werdende Mutter.

„Die ganz überwiegende Zahl an Tests sorgt aber für Verunsicherung, nicht für Klarheit.“

Gibt es Fälle, in denen Sie sagen: Der Test ist sinnvoll?

Ja, und zwar dann, wenn sich in Voruntersuchungen klar herausgestellt hat, dass ein Verdacht auf eine Trisomie besteht und der Test der Schwangeren wirklich eine bessere Entscheidungsgrundlage dafür bietet, ob sie eine invasive Untersuchung durchführen lässt, die ja mit einem Fehlgeburtsrisiko assoziiert ist. Die ganz überwiegende Zahl an Tests sorgt aber für Verunsicherung, nicht für Klarheit.

Warum?

Wenn der NIPT in der Breite und ohne Verdachtsmomente auf chromosomale Veränderungen eingesetzt wird, dann verunsichert dies Frauen vor allem, weil es eine so hohe falsch positiv-Rate bei seltenen Störungen gibt. Das trägt mitnichten zu einer freieren Entscheidung bei. Frauen werden dann unter Umständen eine invasive Untersuchung machen lassen, die sie eigentlich gerade hatten vermeiden wollen. Denn der Test errechnet ja nur Wahrscheinlichkeiten. Durch falsche Aussagen über die Zuverlässigkeit der Tests wird Sicherheit suggeriert, die sich in der Realität als Schimäre entpuppt.

Wie häufig sind denn genetisch bedingte Beeinträchtigung tatsächlich?

Nur bei drei bis vier Prozent aller Schwangerschaften gibt es genetisch bedingte Beeinträchtigungen oder Behinderungen. Das ist ein ganz, ganz kleiner Prozentsatz. Nach diesen drei bis vier Prozent suchen wir mit einem riesigen Apparat an Medizin und einer Diagnostikspirale der Pharma- und Testindustrie. Das steht in keinem Verhältnis.

Welche Auswirkungen hat die Inanspruchnahme der Tests auf uns als Gesellschaft und für Menschen mit Behinderungen, die es in dieser Logik ja nicht geben soll?

Wenn ein Staat eine offensive Screeningpolitik unterstützt und Tests von der Solidargemeinschaft finanziert werden – wie das der Fall ist, wenn Krankenkassen Kosten übernehmen – dann setzt der Staat damit ganz klar eine Botschaft. Nämlich: Wir haben ein Interesse daran, dass möglichst viele Frauen die Tests nutzen. Auch mit der Konsequenz, dass Frauen – wenn sie dieses Wissen haben – ein Kind nicht auf die Welt kommen lassen.

Nach einer Diagnose auf Trisomie 21 werden in Europa 90 Prozent der Schwangerschaften abgebrochen, nur 10 Prozent der werdenden Eltern entscheiden sich für ein Kind mit Trisomie 21.

Wie beurteilen Sie den Abbruch einer Schwangerschaft nach Hinweisen etwa auf ein Downsyndrom beim Kind?

Es ist eine Entscheidung, die Paaren – und insbesondere natürlich den Frauen – unfassbar schwerfällt. Fakt ist aber: Nach einer Diagnose auf Trisomie 21 werden in Europa 90 Prozent der Schwangerschaften abgebrochen, nur 10 Prozent der werdenden Eltern entscheiden sich für ein Kind mit Trisomie 21. In Dänemark beispielsweise hat die Einführung eines vorgeburtlichen Screenings dazu geführt, dass innerhalb nur eines Jahres nur noch halb so viele Kinder mit Downsyndrom geboren wurden wie zuvor.

Was bedeutet das für Menschen mit Behinderungen?

Wenn es eine Seltenheit wird, dass Kinder mit Downsyndrom in unserer Gesellschaft leben, dann erhöht das den Druck auf die Kinder und ihre Eltern. Die Kinder nehmen sich ja als besonders wahr. Zudem: Andere Kinder haben in so einer Welt wenig Kontaktmöglichkeiten und entwickeln kein Verständnis dafür, dass es einfach dazu gehört, dass es Menschen gibt, die vielleicht anders aussehen oder langsamer lernen.

Wie sieht ein verantwortungsvoller Umgang von Ärzt*innen mit NIPT aus?

Ärzt*innen sollten sich als Mentor*innen begreifen und nicht diesen pathologisierenden Blick auf Schwangerschaft einnehmen, der heute so sehr viel Raum bekommt. Die Abrechnungsziffern machen es allerdings nicht attraktiv für Ärzt*innen, sich Zeit zu nehmen für einzelne Patient*innen und gut zu informieren und zu beraten. Ich wünsche mir aber, dass sie auf dem allerbesten Informationsstand zu NIPT sind – und dass sie vor allem über die Häufigkeit von falsch-positiven Tests Bescheid wissen. Es gibt immer wieder Fälle, in denen bei Nachuntersuchungen am Fötus nach einem Schwangerschaftsabbruch festgestellt wird, dass der zuvor erfolgte Test schlicht ein falsches Ergebnis gezeigt hat und das werdende Kind gar keine Beeinträchtigungen gehabt hätte.

Wie häufig ist das der Fall?

In großem Stil passierte dies in den USA, wie eine Recherche der New York Times Anfang 2022 ans Licht brachte. Daraufhin warnte die U.S. Food and Drug Administration (FDA) erstmalig offiziell vor dem Screening mit NIPTs. Frauen hatten ihre Schwangerschaft nach einem scheinbar sicheren NIPT-Befund über eine seltene Chromosomenabweichung ohne invasive Diagnostik abbrechen lassen. Eine Sammelklage von betroffenen Frauen wird derzeit vorbereitet. Vielleicht leitet dies ein Umdenken ein.

Wir können als Gesellschaft klar sagen, dass wir Vielfalt begrüßen und nicht schon vor der Geburt unterbinden wollen.

Welche Entwicklung erwarten Sie für die Zukunft?

Ich gehe davon aus, dass die Tests in Zukunft genauer werden, dass sie sicherer werden, dass sie besser werden. Nicht auszuschließen ist – und das ist eine Frage der gesetzlichen Regulation, die ansteht – dass es verstärkt darum gehen wird zu gucken, ob sich beispielsweise Autismus oder eine Veranlagung zu Depressionen in Verbindung bringen lassen mit bestimmten chromosomalen Veränderungen. Dazu gibt es weitgehende Überlegungen von Bioethikern wie beispielsweise Julian Savulescu. Er meint, es gehöre zur Verantwortung und Pflicht werdender Eltern, sich zu überlegen, welches Kind sie in die Welt setzen wollen oder eben eher nicht. Und dass man ein Kind mit einer Anlage zu Autismus oder Depressionen vielleicht lieber nicht in die Welt setze. Es ist wichtig, dass wir uns als Gesellschaft überlegen, was wir dieser Debatte entgegenhalten können.

Was könnte das sein?

Wir können klar sagen, dass wir Vielfalt begrüßen und nicht schon vor der Geburt unterbinden wollen. Dass wir einen Platz haben wollen in unserer Gesellschaft auch für Menschen, die nicht den Normalitätserwartungen entsprechen und unsere Welt nicht verengen wollen auf Menschen, die vermeintlich gesund und „normal“ auf die Welt kommen.

 

Zur Person

Prof. Dr. Marion Baldus lehrt und forscht seit mehr als zwanzig Jahren u.a. zu Chancen, Risiken, Grenzen und sozialen Auswirkungen pränataler Diagnostik und ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Heilpädagogik an der Hochschule Mannheim. 

Foto: privat