Schauspielunterricht? Muss man sich derart verbiegen, wenn man als Arbeiterkind in die Wissenschaft will?
Nicht nur im Hochschulumfeld. Man entfernt sich ja zum Teil auch von der Familie. Wenn Sie als Arbeiterkind studieren, kommt es oft zu emotionalen Brüchen, man hat vielleicht andere Ansichten als die Eltern, muss sich neu positionieren, die Biografie neu ausrichten. Für viele ist es ein Spagat. Die meisten dieser Professor*innen haben daher nicht unbedingt das Gefühl, sie hätten „es geschafft“ oder sind stolz auf ihre Professuren. Auch sieht man in ihren Biografien Gemeinsamkeiten dahingehend, dass sie versuchen, Vorbild zu sein, indem sie ihre Geschichte erzählen oder Schichtsensibilitäten in ihre Seminare mitnehmen. Einige engagieren sich – wie ich – in Mentorenprogrammen, wie „Balu und Du“ oder in der Initiative Arbeiterkind und bieten Sprechstunden für Studierende aus benachteiligten Schichten an.
Armut und Kinderarmut stehen in Deutschland in engem Zusammenhang mit Bildungsbenachteiligung…
In dem Zusammenhang ist Pierre Bourdieu interessant: Eine seiner Kernthesen war ja, dass staatliche Bildungssysteme Ungleichheit reproduzierten statt gleiche Chancen für alle zu schaffen, indem sie Neutralität vortäuschen. Durch eine bildungs- und erfolgsaffine familiäre Primärsozialisation besitzen Kinder aus schulbildungsnahen Schichten bereits die „richtigen“ Verhaltensweisen, Kenntnisse, Techniken sowie sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten, weil die Inhalte in der Schule Oberschicht- und obere Mittelschicht-orientiert sind. „Arbeiterkinder“ müssen erst lernen, welche Verhaltensweisen in der Schule belohnt und welche als störend empfunden werden und benehmen sich entsprechend häufig „daneben“ – wobei ich mit „daneben“ natürlich meine neben dem, was erwartet wird. Hinzu kommen sogenannte Diskriminierungs- oder auch Klassismuseffekte: Arbeiterkinder erhalten beispielsweise bei gleichen Schulleistungen seltener eine Gymnasialempfehlung.
Die Folgen zeigen sich beim Übergang in höhere Schulen. Welche empirischen Befunde gibt es?
Von 100 Kindern aus der sogenannten Arbeiterschicht gehen 46 auf eine Schule, die einen Hochschulzugang erlaubt, bei Akademiker*innen sind es mit 83 Prozent fast doppelt so viele. In der höheren Bildung wird das fortgeschrieben und die Schere geht weiter auf: An Hochschulen studieren 27 Prozent aus Arbeiterfamilien, 79 Prozent aus Akademikerhaushalten und nur jede*r zehnte Hochschulprofessor*in kommt aus der Gruppe der sogenannten first generation students, also aus nicht akademischen Haushalten.