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Kinderarmut in Deutschland

Über Definitionen und Kontroversen aus wissenschaftlicher Perspektive

Kinderarmut ist in Deutschland seit Jahrzehnten ein gravierendes Problem. Etwa jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. So geben es aktuelle Berechnungen des Statistischen Amts der Europäischen Union (Eurostat) aus dem Jahr 2020 an. Obwohl mehr als 2,5 Millionen Kinder von Armut betroffen sind, ist es in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen, die Zahl zu verringern. Sozialverbände, Organisationen und Wissenschaft drängen daher seit längerer Zeit auf entschlossene Maßnahmen um der Kinderarmut zu begegnen. Denn Kinderarmut hat fatale Folgen für die Betroffenen: Sie beeinflusst vielfach die Lebensumstände, die Bildungschancen und die späteren Biographien.

Dabei ist eine genaue Definition von Kinderarmut gar nicht ohne weiteres möglich. „In der gesamten Armutsforschung gibt es eine breite Diskussion, wie wir überhaupt Armut definieren und messen – und das gilt auch für Kinderarmut”, sagt der Soziologe und Armutsforscher Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg von der Universität Bremen, der insbesondere zu Ungleichheitsdynamiken in Wohlfahrtsgesellschaften forscht. „Denn es existieren eine Vielzahl an Konzepten und methodischen Ansätzen, die sich mit Armut und damit auch Kinderarmut auseinandersetzen.”

„In unserer Marktgesellschaft ist Einkommen der wichtigste Zugang zur sozialen Teilhabe, daher ist es allgemein anerkannt, dass das Einkommen einen wichtigen Faktor für die Bemessung darstellt. Aber gleichzeitig sehen wir nicht das ganze Bild von Armut wenn wir nur auf das Einkommen schauen.”

Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg, Universität Bremen

Gemessen wird Kinderarmut oftmals als relative Einkommensarmut. Kinder gelten dann als „arm”, wenn sie in Haushalten mit weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens aufwachsen. Olaf Groh-Samberg hält die statistischen Einkommensdaten für eine wesentliche Grundlage, um Kinderarmut zu definieren: „In unserer Marktgesellschaft ist Einkommen der wichtigste Zugang zur sozialen Teilhabe, daher ist es allgemein anerkannt, dass das Einkommen einen wichtigen Faktor für die Bemessung darstellt. Aber gleichzeitig sehen wir nicht das ganze Bild von Armut wenn wir nur auf das Einkommen schauen”.

Demgegenüber setzt eine andere Definition von Kinderarmut am Bezug von Sozialleistungen der Familien an. Demnach befinden sich alle diese Kinder in Kinderarmut, die in einem Haushalt leben, welcher Grundsicherung in Form von Sozialleistungen bezieht. In Deutschland betrifft das etwa 14 Prozent aller Kinder. Im Gegensatz zur relativen Einkommensarmut bemisst sich die Armutsgrenze hierbei nicht im Vergleich zur Gesellschaft, sondern sie orientiert sich am soziokulturellen Existenzminimum, ist politisch festgelegt und schafft einen festen Schwellenwert als Definition.

Auch eine Kombination beider Ansätze ist durchaus üblich. So bemisst die Bertelsmann-Stiftung beispielsweise Kinderarmut mit einem kombinierten Messansatz aus relativer Einkommensarmut und dem Beziehen von Sozialleistungen, um das Ausmaß Kinderarmut differenzierter darzustellen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sogar mehr als jedes fünfte Kind (21,3 Prozent) in einer Armutslage aufwächst.

Andere Konzepte verwenden hingegen zur Abgrenzung von Kinderarmut etwa sogenannte Lebenslagen-Indikatoren und stellen das Versorgungsniveau und die Verfügbarkeit von Ressourcen in den Haushalten in den Mittelpunkt. Dabei besonders von Interesse: Aspekte wie die Größe des Wohnraum, das Vorhandensein von finanziellen Rücklagen oder der Verzicht auf materielle Güter. Und schließlich verfolgen qualitative Konzepte eine subjektive Armutsmessung, indem Betroffene zu ihrer finanziellen Situation und der empfundenen Benachteiligung befragt werden.

„Mit jeder statistisch erhebbaren Definition möchte man eine Gruppe abgrenzen, die im Gegensatz zum Rest der Gesellschaft in Armut lebt.“

Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg, Universität Bremen

Die unterschiedlichen Berechnungsgrundlagen und Konzepte führen auch dazu, dass die Zahl der von Kinderarmut betroffenen Kinder  – sofern überhaupt zahlenmäßig zu erfassen  – stark variiert. „Mit jeder statistisch erhebbaren Definition möchte man eine Gruppe abgrenzen, die im Gegensatz zum Rest der Gesellschaft in Armut lebt. Das ist problematisch, denn die absolute Zahl der Kinderarmut unterscheidet sich je nach verwendeter Definition, nicht aber die Frage, wer besonders häufig davon betroffen ist, wie sie sich zeitlich entwickelt und welche Umstände besonders Kinderarmut begünstigen. Da zeigen alle Konzepte ein recht einheitliches Bild”, so Groh-Samberg.

Die größten Risiken für ein Aufwachsen in Kinderarmut, so das Ergebnis vieler Studien, tragen Kinder alleinerziehender Eltern, Kinder in Haushalten mit Langzeitarbeitslosigkeit, Kinder in Familien mit Migrationshintergrund und Kinder aus Familien mit mehr als drei Kindern. Und auch die Folgen eines Aufwachsens in Kinderarmut sind wissenschaftlich bereits umfassend erforscht. So machen Studien deutlich, dass unter anderem die Gesundheit, das Entwicklungsniveau und die Bildung von Kindern in Kinderarmut deutlich schlechter ist als bei Kindern ohne Armutserfahrung.

„Natürlich spielt die Haushaltssituation eine entscheidende Rolle, andererseits gibt es auch Positionen, die sich dafür stark machen, dass Kinder losgelöst von den Haushalten betrachtet werden.”

Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg, Universität Bremen

Trotz eindeutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse zu den Risiken für und Konsequenzen von Kinderarmut existieren dennoch Kontroversen, ob der richtigen Erforschung von Kinderarmut. Eine zentrale Kontroverse begründet sich darin, ob überhaupt die Armut eines Kindes aus der Armut eines Haushalts abgeleitet werden kann. „Natürlich spielt die Haushaltssituation eine entscheidende Rolle, andererseits gibt es auch Positionen, die sich dafür stark machen, dass Kinder losgelöst von den Haushalten betrachtet werden”, so Groh-Samberg.

Forschungsergebnisse zeigen auch, so der Soziologe, dass Kinder in vielen einkommensarmen Haushalten einen überproportional höheren Anteil des Einkommens bekämen. „Wir sehen, dass viele Familien und Alleinerziehenden sich in ihrem eigenen Konsum stark einschränken, um ihren Kindern einen höheren Lebensstandard zu ermöglichen, wenn gleich sie auch dennoch weniger zur Verfügung haben als nicht-arme Kinder.” Ebenso gäbe es aber auch Fälle von Verwahrlosung, in denen Kinder einen geringeren Anteil des Haushaltseinkommens erhalten, als die üblichen Messkonzepte annehmen.

Zudem setzen sich qualitative Forschungsansätze deutlich stärker mit der Lebenswirklichkeit der Kinder auseinander und nehmen Zusammenhänge von materiellen Ressourcen, Bildungssituation und der familiären Situation vertieft in den Blick. „Die Forschung kann sehr deutlich nachzeichnen, wie stark Kinder in Armut beispielsweise auch im Bildungsbereich oder der sozialen Integration benachteiligt sind. Denn da kumulieren ganz schön viele Probleme, die für die Lebenswirklichkeit der Kinder eine erhebliche Benachteiligung sind”, so Groh-Samberg.

„Es ist wichtig, dass wir alle zur Verfügung stehenden Konzepte und Methoden auch nutzen und Armut multidimensional erfassen.“

Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg, Universität Bremen

Auch wenn es in der Forschung noch eine recht strikte Trennung zwischen quantitativen und qualitativen Ansätzen gibt, zeigte sich in dem im April 2021 veröffentlichten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zuletzt der Versuch, beide Methoden miteinander zu verknüpfen, um so ein umfassendes Bild über Armut und insbesondere Kinderarmut zu erhalten. Für Groh-Samberg zumindest ein positives Signal: „Es ist wichtig, dass wir alle zur Verfügung stehenden Konzepte und Methoden auch nutzen und Armut multidimensional erfassen. In der Wissenschaft gelingt das immer besser, aber in der Öffentlichkeit und Politik fehlt es oft noch an der Gesamtschau des Problems unter Einbezug aller Aspekte.”

Eine zweite Kontroverse nimmt die gesonderte Rolle von Kinderarmut in der Armutsforschung in den Fokus. Denn innerhalb der Armutsforschung ist es durchaus umstritten, inwieweit Kinderarmut eine besondere Sichtbarkeit erfahren soll. Befürworter argumentieren, dass Kinder schuldlos in Kinderarmut hineingeboren werden und allein aus moralischen Gründen ein besonderer Fokus darauf liegen sollte, den Kindern mittels Bildungsförderung und kindbezogenen Förderungen eine gleichwertige Startchance zu ermöglichen. Olaf Groh-Samberg hält es hingegen für kritisch, allein aus diesem Grund die Bekämpfung von Kinderarmut gegenüber anderen Armutslagen zu priorisieren: „Denn es klammert aus, dass die Ursache von Armut immer die Folge von Verteilungsfragen in der Gesellschaft ist. Gleichzeitig suggeriert das moralische Argument, dass Erwachsene an ihrer Situation selber schuld seien. Aber das sind sie nicht.” Er betont vielmehr, dass Kinderarmut nur dann sinnvoll begegnet werden kann, wenn die Armut als solche bekämpft wird.

„Die Wissenschaft zeigt eindeutig, dass die Armut in Deutschland über einen langen Zeitraum hinweg gestiegen ist, aber anscheinend reicht die Aufmerksamkeit nicht aus, diesen Trend umzukehren.”

Prof. Dr. Olaf Groh-Samberg, Universität Bremen

Er fordert daher, dass Armut wie Kinderarmut insgesamt mehr Aufmerksamkeit in der Gesellschaft erlangen  und auch aus der Wissenschaft heraus noch stärker problematisiert werden sollten. „Die Wissenschaft zeigt eindeutig, dass die Armut in Deutschland über einen langen Zeitraum hinweg gestiegen ist, aber anscheinend reicht die Aufmerksamkeit nicht aus, diesen Trend umzukehren.” Aktuelle Analysen lassen zudem befürchten, dass die Corona-Pandemie das Problem der Kinderarmut in Deutschland noch verschärft. Aus Perspektive der Wissenschaft müsse daher dringend mehr gegen die Armut in Deutschland getan werden. „Nichtsdestotrotz verdienen Kinder noch einmal eine ganz besondere Aufmerksamkeit, weil sie überproportional häufig von Armut bedroht sind”, so Groh-Samberg.

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