Ein Nilpferd aus trägt einen Arztkittel.
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Arme Kinder – kranke Kinder?

Über den Einfluss von Kinderarmut auf die Gesundheit

Armut erhöht das Krankheitsrisiko. Das gilt nicht nur für Erwachsene, sondern bereits im Kindesalter. Finanzielle Sorgen und Stress im Elternhaus, beengte Wohnverhältnisse, Bewegungsmangel, eine unausgewogene Ernährung: All diese Faktoren machen Heranwachsende aus sozial benachteiligten Familien unter anderem anfälliger für Übergewicht und psychische Auffälligkeiten als Gleichaltrige aus höheren Einkommensschichten. Daten aus der KiGGS Studie, der größten deutschen Langzeiterhebung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, belegen dies. Und doch ist die Verknüpfung von Kinderarmut und Krankheit alles andere als zwangsläufig.

Für KiGGS befragten und untersuchten Wissenschaftler*innen des Robert Koch-Instituts RKI seit 2003 in bisher drei Phasen mehrere Tausend Kinder und Jugendliche zwischen 3 und 17 Jahren zu ihrem Gesundheitszustand, ihrem Wohlbefinden und ihrem Gesundheitsverhalten. Deren Eltern gaben zusätzlich Auskunft. Wie fühlen sich die Heranwachsenden, was essen sie, treiben sie Sport? Wie viel Zeit verbringen Jungen und Mädchen vor dem Computer? Wie zufrieden oder unglücklich, entspannt oder gestresst sind sie?

„Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, sind häufiger von Übergewicht betroffen, ernähren sich ungesünder und bewegen sich weniger als Heranwachsende in wohlhabenderen Familien.“

Dr. Benjamin Kuntz, Robert Koch-Institut

Die gute Nachricht vorweg: Über alle sozioökonomischen Gruppen hinweg schätzten rund 95 Prozent der befragten Eltern den allgemeinen Gesundheitszustand ihrer Kinder als gut oder sehr gut ein. Und doch zeigen die Daten, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien ein deutlich höheres Risiko besitzen, gesundheitliche Probleme zu entwickeln, sagt Dr. Benjamin Kuntz vom Robert Koch-Institut (RKI). Der Gesundheitswissenschaftler hat gemeinsam mit Kolleg*innen die Daten der 2. KiGGS-Welle auf den Zusammenhang zwischen Einkommen und Gesundheit untersucht. „Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, sind häufiger von Übergewicht betroffen, ernähren sich ungesünder und bewegen sich weniger als Heranwachsende in wohlhabenderen Familien“, nennt er zentrale Ergebnisse. 

Wie eklatant diese Unterschiede sind, zeigt der genaue Blick in die Studie: Acht Prozent der Kinder und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem Einkommen weisen einen mittelmäßigen oder schlechteren Gesundheitszustand auf. In Familien mit mittlerem Einkommen waren es mit 3,6 Prozent nicht einmal halb so viel, in jenen mit hohem Einkommen sogar nur 1,6 Prozent. Ähnlich deutlich sind die Unterschiede bei psychischen Auffälligkeiten. In der hohen Einkommensgruppe kamen sie bei 9,2 Prozent der Kinder und Jugendlichen vor, in Familien mit mittlerem Einkommen zu 16,2 Prozent und mit niedrigem Einkommen zu 23,2 Prozent.

Die schlechteste Ausgangslage haben Heranwachsende in Familien mit wenig Einkommen, wenig Bildung und erwerbslosen Eltern. „Da kumulieren die Risiken“, sagt Kuntz. Das bestätigt auch auf globaler Ebene die HBSC-Studie (Health Behaviour in School-aged Children) der Weltgesundheitsorganisation WHO, die auch in Deutschland seit nunmehr fast 30 Jahren Daten sammelt. Sie bietet zusammen mit der KiGGS-Studie die umfassendsten Daten zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.

„Es gibt keine monokausale Erklärung für den Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit.“

Prof. Dr. Andreas Klocke, Frankfurt University of Applied Sciences

Macht Armut also Kinder krank? Nur bedingt, schränkt Prof. Dr. Andreas Klocke von der Frankfurt University of Applied Sciences ein. „Es gibt keine monokausale Erklärung für den Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit“, so der Soziologe, der von 1994 bis 2017 an den deutschen Erhebungen und Auswertungen der HBSC-Studie beteiligt war.

Klocke verweist auf den großen Einfluss des sogenannten Sozialkapitals in der Gleichung, auf die Bedeutung von Geborgenheit, Vertrauen, und sozialen Netzwerken, zuhause wie in der Schule. Diese Faktoren seien am Ende für die Gesundheit der Heranwachsenden wichtiger als das pure Einkommen der Eltern, sagt der Wissenschaftler. 

Das von ihm geleitete „Forschungszentrum demografischer Wandel“ hat den Einfluss dieses Sozialkapitals in der Studie „Gesundheitsverhalten und Unfallgeschehen im Schulalter“ untersucht. Die Wissenschaftler*innen befragen seit dem Schuljahr 2014/2015 rund 10 000 Schulkinder jedes Jahr erneut nicht nur zu ihrem Gesundheitszustand, sondern auch zu Veränderungen in ihrem sozialen Umfeld und Wohlbefinden, zur Qualität der Beziehung zu ihren Eltern, Freund*innen und Nachbar*innen. Durch die langfristige Betrachtung konnten die Forscher*innen Bezüge zwischen den Faktoren herstellen. „Die Studie zeigt, dass ein hohes Sozialkapital sich positiv auf die Gesundheit auswirkt, und zwar unabhängig von der Wohlstandssituation des Elternhauses“, sagt Klocke. „Wenn Kinder sich zugehörig, ernst genommen und  akzeptiert fühlen, wenn sie kein Mobbing erfahren, dann kann man davon ausgehen, dass sie ein gutes Wohlbefinden für sich bilanzieren.“ Das wiederum schlage sich in der Regel auch klar in einem besseren Gesundheitszustand und einem positiveren Gesundheitsverhalten nieder.

„Kita und Schule sind die prägenden Lebenswelten, in denen man sinnvoll Prävention betreiben kann.“

Dr. Benjamin Kuntz, Robert Koch-Institut

Dem Soziologen liegt daran, den Zusammenhang zwischen Kinderarmut und Gesundheit nicht zu mechanistisch zu betrachten. Geldsorgen können zu Stress in Familien führen und Kinder psychisch belasten, sie erhöhen das Risiko für eine schlechtere Ernährung und weniger Bewegung. Doch dies ist kein zwangsläufiger Zusammenhang. Vielmehr hat Armut viele Gesichter: Milieu, Bildung und berufliche Stellung der Eltern können den negativen Effekt eines niedrigen Einkommens deutlich ausgleichen. „Manche kaufen mit geringem Einkommen Vollkornbrot und frisches Gemüse, andere Fast Food, das genauso viel kostet.“  

Umgekehrt bedeutet dies, dass ein höheres Einkommen oder staatliche Förderungen die Gesundheit der Kinder in sozial schwachen Familien nicht automatisch verbessern würde. „Mit mehr Geld allein lässt sich der Zusammenhang nicht knacken“, ist Andreas Klocke überzeugt. Wer keinen Wert auf eine gesunde Ernährung legt, wird sich vermutlich auch nicht durch finanzielle Zuschüsse zum täglichen Kochen bewegen lassen. 

Also muss man Kinder und Jugendliche aus Haushalten mit geringem Einkommen  außerhalb der Familien erreichen, um ihr Gesundheitsverhalten zu fördern. „Kita und Schule sind die prägenden Lebenswelten, in denen man sinnvoll Prävention betreiben kann“, sagt Benjamin Kuntz. Hier kann man Kindern aller Herkunftsgruppen ein ausgewogenes Essen, Bewegungsangebote, Anti-Mobbing- und Anti-Gewalt-Trainings bieten. In den Betreuungs- und Bildungseinrichtungen können so familiäre Defizite ausgeglichen werden, sind Forscher*innen überzeugt. Vorausgesetzt man räumt ihnen den notwendigen Stellenwert ein und stattet sie finanziell entsprechend aus.

Ein weiterer Vorteil: In diesen öffentlichen Räumen erreicht man die Heranwachsenden schneller und direkter als durch Versuche, das Verhalten von Eltern im häuslichen Bereich zu beeinflussen. Je früher diese Präventionsprogramme ansetzen, desto eher besteht die Chance, ungesunde Verhaltensmuster erst gar nicht zu verfestigen. Wer als Kind lernt, auf eine gesunde Ernährung, Sport und psychischen Ausgleich zu achten, nimmt diese Erfahrung in sein späteres Leben mit. Und gibt sie im besten Fall an seine eigenen Kinder weiter.

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