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Maßnahmen gegen Kinderarmut

Viele Ebenen und unterschiedliche Politikfelder

Kinderarmut ist ein gravierendes Problem in Deutschland – so das Ergebnis einer Vielzahl von Studien, Armutsberichten der Bundesregierung und wissenschaftlichen Stellungnahmen. Doch mit der neuen Bundesregierung soll sich das nun ändern. „Wir wollen Kinderarmut bekämpfen und einen Schwerpunkt auf die Chancen und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen legen”, steht im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung (PDF). Dazu werden verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen, wie etwa eine Kindergrundsicherung, ein höherer Mindestlohn oder die Stärkung von „Brennpunkt-Schulen”.

„Will man Armut effektiv bekämpfen, muss man jedoch an die gesellschaftlichen Wurzeln ran. Dann sind Maßnahmen der Umverteilung und die Bekämpfung der Ungleichheit ganz wichtige Bestandteile.“

Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Universität zu Köln (emeritiert)

Zahlreiche Forschungsprojekte beschäftigen sich mit ganz konkreten Maßnahmen und können daher auch Aussagen über deren unterschiedliche Wirkung machen. Einige setzen an den Ursachen des Problems an. Kinder von Alleinerziehenden, Erwerbslosen oder mit einer Migrationsgeschichte der Eltern gelten als besonders von Armut betroffen – so nennt es auch der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Für Prof. Dr. Christoph Butterwegge, emeritierter Politikwissenschaftler und Armutsforscher an der Universität zu Köln, ist das der entscheidende Hebel: „Die politisch Verantwortlichen konzentrieren sich zu sehr auf die Bekämpfung der Folgen. Will man Armut effektiv bekämpfen, muss man jedoch an die gesellschaftlichen Wurzeln ran. Dann sind Maßnahmen der Umverteilung und die Bekämpfung der Ungleichheit ganz wichtige Bestandteile.” Als wichtigste Schritte nennt er die Erhöhung des Mindestlohns und eine stärkere Regulierung der Leiharbeit, die Schaffung einer armutsfesten, bedarfsgerechten und sanktionslosen Grundsicherung sowie eine Wiedererhebung der Vermögenssteuer. Butterwegge: „Die Bekämpfung der Kinderarmut erfordert also Aktivitäten auf ganz vielen Ebenen und unterschiedlichen Politikfeldern.”

Die Bertelsmann Stiftung schlägt mit dem sogenannten Teilhabegeld ein Modell der Kindergrundsicherung vor. Es soll verschiedene staatliche Leistungen bündeln, jede Familie soll es bekommen und es soll mit steigendem Einkommen abschmelzen. „Unser Teilhabegeld wirkt sich besonders positiv aus für Kinder aus alleinerziehenden Haushalten, Kinder in Mehrkindfamilien sowie bei Familien mit besonders niedrigen Einkommen ”, so Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung. Dort leitet sie das Programm zu wirksamen Bildungsinvestitionen und hat zahlreiche Forschungsprojekte zu Kinderarmut mitbegleitet.

Auch Christoph Butterwegge befürwortet eine Kindergrundsicherung, wenn sie gerecht und gut gemacht sei. Dazu müsse ihr Basisbetrag, den alle Kinder erhalten, mindestens 315 Euro betragen: „Der Einkommensmillionär bekommt – anders als die Normalverdienerin mit einem Kindergeld von 219 Euro – für sein Kind bei einem Steuersatz von 45 Prozent (sogenannte Reichensteuer) fast 100 Euro im Monat mehr, nämlich 314,55 Euro. So hoch ist der steuerliche Kinderfreibetrag und so hoch muss eine Kindergrundsicherung mindestens sein, um die Kinder gleichzustellen.”

„Wenn es uns damit ernst ist, dass alle Kinder gut aufwachsen und teilhaben können sollen, dann müssen wir uns an dem orientieren, was zu einer ,normalen’ Kindheit oder Jugend dazugehört und nicht an einem Minimum.“

Anette Stein, Bertelsmann-Stiftung

Beide Forschende halten es für sinnvoll, eine neue Bedarfserhebung zu machen, um herauszufinden, wie viel Geld Kinder und Jugendliche tatsächlich benötigen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Anette Stein schlägt dazu zwei Schritte vor: „Erstens sollten wir Kinder und Jugendliche selbst fragen, was für sie zu einem guten Leben dazu gehört, was sie brauchen und wann Armut und Ausgrenzung beginnt. Wenn es uns damit ernst ist, dass alle Kinder gut aufwachsen und teilhaben können sollen, dann müssen wir uns an dem orientieren, was zu einer ,normalen’ Kindheit oder Jugend dazugehört und nicht an einem Minimum.” Mit Blick auf die Wirkung einer solchen Maßnahme zeigt zudem die Forschung, dass das Geld – entgegen einiger Vorurteile – auch tatsächlich bei den Kindern ankommt: Es würde hauptsächlich in größere Wohnungen, bessere Betreuung, Bildung und Hobbys der Kinder investiert, heißt es in einer 2018 durchgeführten Studie der Bertelsmann-Stiftung.

Ein anderer Ansatz sind hingegen Maßnahmen, die sich mit den Konsequenzen der Kinderarmut beschäftigen: der sozialen Ausgrenzung und Stigmatisierung. „Das Thema Kinderarmut ist ein Tabu. Darüber wird nicht gerne gesprochen und niemand möchte persönlich damit in Verbindung gebracht werden. Kinder und Jugendliche erleben Ausgrenzung und Mobbing, weil sie keine anderen Kinder zu sich nach Hause einladen können, nicht mit ins Kino gehen oder an der Klassenfahrt teilnehmen können”, so Anette Stein. „Wir versuchen mit unserer Forschung Fakten aufzuzeigen, aber ergänzend dazu sind Maßnahmen wichtig, die auch auf die Emotionen der Betroffenen eingehen.” Die Aktion #StopptKinderarmut setzt hier genau an: Youtuber*innen haben über ihre eigenen Armutserfahrungen berichtet und Kinder und Jugendliche eingeladen, ihre Erlebnisse zu teilen. So seien über 4000 Beiträge entstanden, die zeigen, wie tiefgreifend die Armutserfahrungen für Kinder und Jugendliche sind: „Und dass sie damit nicht alleine sind und es Wege gibt, sich Unterstützung und Hilfe zu holen”, fügt Stein hinzu.

„Natürlich hilft karitatives Engagement im Einzelfall, aber wir dürfen nicht aus einem Volk der Dichter und Denker zu einem Volk der Stifter und Schenker werden. Denn am Ende würden die Reichen entscheiden, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. Nötig sind ein leistungsfähiger Sozialstaat und ein gerechter Steuerstaat.“

Christoph Butterwegge, Universität zu Köln (emeritiert)

In der Vorweihnachtszeit sticht zudem noch eine ganz andere Maßnahme ins Auge: Das Spenden von Spielsachen, Kleidung und Geld. Laut einer Studie im Auftrag des Deutschen Spendenrats spendeten die Menschen in Deutschland im Jahr 2020 1,1 Millionen Euro an die Kinder- und Jugendhilfe, darüber hinaus viele Sachspenden. Bezogen auf die strukturelle Bekämpfung von Kinderarmut sieht Christoph Butterwegge das allerdings kritisch: „Natürlich hilft karitatives Engagement im Einzelfall, aber wir dürfen nicht aus einem Volk der Dichter und Denker zu einem Volk der Stifter und Schenker werden. Denn am Ende würden die Reichen entscheiden, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. Nötig sind ein leistungsfähiger Sozialstaat und ein gerechter Steuerstaat.” Spenden würden hingegen nur die Folgen von Kinderarmut bekämpfen und nicht deren Ursachen.

Dabei sind sich die Experten einig: Der Staat sollte die gewählten Maßnahmen viel stärker an den bisherigen Forschungsergebnissen orientieren, anstatt auf die Solidarität der Gesellschaft zu hoffen.

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