Foto: Geralt / Pixabay

„Ein Lebensjahr ist der Bevölkerung in westlichen Industrienationen gut 100.000 Euro wert.“ 

Ein Gespräch mit Prof. Nicolas Ziebarth

Prof. Ziebarth, was kosten uns Hitzewellen bereits heute?

Zunächst einmal müssen wir definieren, was eine Hitzewelle ist. In Deutschland sagt man offiziell Hitzetag, wenn die maximale Temperatur über 30 Grad liegt. Mehrere Hitzetage hintereinander sind dann eine Hitzewelle. Und es ist eindeutig, dass Hitzewellen häufiger und intensiver werden. Wenn man nun die gesamtwirtschaftlichen Kosten berechnen will, die von der Gesundheit herrühren, muss man verschiedene Komponenten beleuchten: Was sind die Krankenhauskosten? Was sind die Kosten, die durch den Verlust der Arbeitskraft entstehen, weil Menschen ins Krankenhaus eingeliefert werden? Was sind die Kosten durch Todesfälle?

Da vor allem ältere Menschen – die nicht mehr arbeiten – von der Hitze betroffen sind, sind die direkten gesundheitlichen Kosten, zum Beispiel durch den Verlust an Arbeitszeit aufgrund von Krankenhausaufenthalten, nicht sehr hoch. Doch auch die jüngere, arbeitende Bevölkerung ist an Hitzetagen weniger produktiv. Allerdings sind diese Produktivitätsverluste, beispielsweise durch Unfälle und Fehler am Arbeitsplatz, nicht in den Schätzungen enthalten.

Warum nicht? Eine Studie des WWF von 2007 beispielsweise schätzt die Leistungsminderung Arbeitender bei Temperaturen über 26 Grad Celsius auf drei bis zwölf Prozent. Als Folge errechnen die Forscher*innen einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von 540 Millionen bis 2,4 Milliarden Euro pro Jahr.

Also man kann solche Schätzungen sicherlich machen. Aber man muss sich bewusst sein, dass das starke Extrapolationen sind, also Schätzungen anhand der beobachteten Entwicklungstrends, und es in diesem Bereich keine genauen Zahlen gibt. Da wird es starke Unterschiede in den jeweiligen Arbeitssektoren geben – je nachdem wie sehr man der Hitze ausgesetzt ist. Bauarbeiter*innen wären beispielsweise stärker betroffen als Büroangestellte. Aber sagen wir mal so: Durchschnittlich fünf Prozent weniger Produktivität hört sich jetzt nicht komplett falsch an. Die dadurch entstehenden Kosten sind aber schwierig zu berechnen.

Welche Kosten können denn sicher berechnet werden?

Die Sterbefälle, die verlorene Arbeitszeit durch die Krankenhauseinlieferungen, und die Kosten durch die Krankenhausaufenthalte. Nach unseren Schätzungen belaufen sich diese Kosten auf ungefähr 40 Millionen Euro pro Hitzetag in Deutschland. Bei 20 Hitzetagen, wie im Jahr 2018, sind das 800 Millionen Euro. Und das sind nur die direkten Gesundheitskosten.

Mir ist bewusst, dass diese Zahl nicht riesig groß ist. Und ich würde auch vermuten, dass die Kosten in anderen Bereichen dafür sorgen, dass die Zahl sehr viel größer wird als 40 Millionen am Tag. Die Zufriedenheitsverluste von Menschen lassen sich beispielsweise sehr schwer in Zahlen ausdrücken. Außerdem produzieren Menschen ja nicht nur Gesundheitskosten, sondern haben auch langfristige Gesundheitsschäden und persönliche Schicksale, deren Wert sich nicht so einfach berechnen lässt. Die andere Sache, die man berücksichtigen muss, sind die langfristigen Kosten für den Umbau des Gesundheitssystems: Wenn es immer mehr Hitzewellen gibt, muss man eben auch Bettenkapazitäten schaffen – ähnlich wie bei Corona. Ein weiterer großer Kostenpunkt sind Investitionen in die Kühlung von Krankenhäusern und Pflegeheimen. Das ist alles nicht in den 40 Millionen mit einberechnet. Und ich bin mir sicher, dass das sehr teuer wird. Allerdings ist es nicht trivial, diese Kosten genau zu beziffern.

„Ein Lebensjahr ist der Bevölkerung in westlichen Industrienationen gut 100.000 Euro wert.“ 

Dann kommen wir noch einmal auf die genau zu beziffernden Kosten zurück: Sowohl die wirtschaftlichen Verluste durch die verlorene Arbeitskraft als auch die Krankenhauskosten leuchten mir ein. Aber wie beziffert man Sterbefälle?

Für viele Nicht-Ökonom*innen ist das vielleicht unethisch oder eine Berechnung, die man so nicht anstellen sollte. Und natürlich ist jeder Todesfall einer zu viel. Nichtsdestotrotz ist es aus ökonomischer Sicht wichtig, ob junge Menschen sterben, die noch 50 Jahre gelebt hätten, oder 85-jährige, die vielleicht nur noch vier Wochen gelebt hätten. Während der Coronapandemie wird das unter dem Begriff der „Übermortalität“ subsumiert. Aus diesem Grund benutzt die Gesundheitsökonomie sogenannte „qualitätsadjustierte Lebensjahre“, um zu berechnen, wie viele standardisierte Lebensjahre verloren gehen, die Menschen in guter Gesundheit verbracht hätten. Mit verschiedenen Methoden wird dann versucht, den statistischen Wert eines Lebens zu berechnen. Es geht vor allem darum, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was man als Gesellschaft bereit ist, in den Schutz von Leben zu investieren. Und gängige Schätzungen sagen: Ein Lebensjahr ist der Bevölkerung in westlichen Industrienationen gut 100.000 Euro wert.

Woher kommen diese 100.000 Euro?

Das ist ein Wert, der aus vielen wissenschaftlichen Untersuchungen abgeleitet ist, in denen Menschen Entscheidungen treffen zwischen einem höheren Risiko zu sterben und monetären Aufwendungen. Das Standardbeispiel in der Literatur sind Airbags und Anschnallgurte im Auto, oder die Lohnzuschläge für besonders gefährliche Arbeit, auf die sich Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen geeinigt haben. Dahinter steht eine Vielzahl von Akteur*innen unserer Gesellschaft, die Geld investieren, um das Risiko eines frühzeitigen Todes zu senken oder ein höheres Sterberisiko zu kompensieren. Anhand dieser Abwägungen berechnen Ökonom*innen dann den monetären Wert, den die Gesellschaft einem menschlichen Leben implizit über gefällte Entscheidungen zuweist. Das klingt erstmal ein bisschen absurd, aber interessanterweise findet eine reichhaltige und jahrzehntealte Literatur, dass der Wert eines statistischen Lebens in Amerika oder Europa zwischen 5 und 10 Millionen Dollar liegt. Und wenn man diesen Wert auf ein Lebensjahr herunterbricht, kommt man auf ungefähr 100.000 Euro. Man kann auch ein bisschen weniger nehmen, oder ein bisschen mehr. Aber das Entscheidende ist: Es handelt sich nicht um konkrete monetäre Kosten, wie beispielsweise den Wegfall von Steuerzahlungen oder Arbeitskraft. Denn obwohl es solche Berechnungen durchaus gibt, stehen diese doch auf sehr wackeligen Annahmen, zumal man dann ja wiederum Kosteneinsparungen miteinberechnen müsste, zum Beispiel durch nicht ausbezahlte Renten. Nein, diese 100.000 Euro pro Lebensjahr sind lediglich eine Annäherung, wieviel die Gesellschaft bereit ist, in den Schutz von Leben zu investieren.

Ein anderes Beispiel wären neue medizinische Technologien, die stark untergewichtigen Neugeborenen das Leben retten. Den Fall hatten wir vor ein paar Jahren in meinem Freundeskreis: Das Kind kam in der 28. Schwangerschaftswoche auf die Welt und war nur 700 Gramm schwer. Die Ökonomie würde jetzt fragen: Ist es sinnvoll, Millionen an Euro in diese neue Technologie zu investieren, um das Leben des Kindes zu retten? Die Antwort solcher fast schon absurden Kosten-Nutzen-Analysen in der Gesundheitsökonomie ist aber immer fast „ja“, wenn es um neue Technologien geht. Denn bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren hat jedes Leben ja einen statistischen Wert von ungefähr 8 Millionen Euro. Und selbst wenn ein stark untergewichtiges Kind nun monatelang im Krankenhaus behandelt werden müsste, sind die Millioneninvestitionen nicht nur aus ethischer, sondern auch aus rein ökonomischer Sicht sinnvoll.

Das heißt, die monetären Kosten eines Sterbefalls ergeben sich aus dem Verlust der noch zu erwartenden Lebensjahre. Bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren würde eine 67-jährige Hitzetote in euren Berechnungen demnach 1,3 Millionen Euro Kosten produzieren, und eine 18-jährige 6,2 Millionen Euro?

Genau. Diese 100.000 Euro pro Lebensjahr sind eine Art Bewertungsmaßstab. Und dieser wurde auch während der Coronapandemie häufig eingesetzt: Man nimmt den Wert eines statistischen Lebensjahres, um die Kosten der Pandemie zu berechnen. Die Amerikaner implementieren beispielsweise auch Umweltschutzauflagen an der geschätzten Zahl von geretteten Menschenleben. Wir können ja sehen, wie die Luftverschmutzung Menschenleben kostet – und mithilfe dieser Methodik kann man Kosten-Nutzen-Analysen erstellen.

Die gleiche Kosten-Nutzen-Analyse sollte man dann ja auch beim Klimaschutz anwenden können. So müsste die Bundesregierung laut einer Studie des Öko-Instituts von 2019 etwa 24 Milliarden Euro pro Jahr investieren, um bis 2050 klimaneutral zu sein. Andere Schätzungen bewegen sich zwischen 12 und 70 Milliarden Euro jährlich. Aber wenn wir an den Wert denken, den eine Gesellschaft bereit ist, in den Schutz von Leben zu investieren, stellt sich doch die Frage: Wie viel kostet uns unterlassener Klimaschutz?

Das ist eine wichtige Frage. Nun arbeite ich jedoch in einem Wissenschaftsbereich, wo man mit Prognosen sehr vorsichtig ist. Wir betrachten normalerweise nur vergangene Jahre – Prognosen überlassen wir den Klimawissenschaftler*innen. Und diese vergleichen ja immer Szenarien, beispielsweise „gar kein Klimaschutz“ versus „Klimaneutralität bis 2040“. Die Frage ist dann eben: Wie viele Hitzetage können wir durch Klimaschutzinvestitionen abwenden?

Diese Berechnungen werden dann sehr schnell sehr komplex, zumal unsere Daten ja auch immer auf der heutigen Infrastruktur beruhen. Und ob diese in 50 Jahren genauso aussieht, bleibt abzuwarten. Für eine genaue Kostenabschätzung ist mir der Horizont deshalb einfach zu weit. Ich denke aber, eine Verdopplung der Hitzetage in den nächsten 50 Jahren ist eine gute Grundlage für solche Schätzungen. Und allein daran sieht man schon: Wenn sich nichts fundamental ändert, wird das sehr, sehr teuer.

 

Zur Person

Prof. Nicolas Ziebarth ist Gesundheits- und Arbeitsmarktökonom an der Cornell University in Ithaca, New York. Als Experte für die Ökonomie von krankheitsbedingten Arbeitsausfällen forscht er zu den Themen Gesundheit, Volkswirtschaft und Arbeitswirtschaft.

Foto: Cornell University