Dann kommen wir noch einmal auf die genau zu beziffernden Kosten zurück: Sowohl die wirtschaftlichen Verluste durch die verlorene Arbeitskraft als auch die Krankenhauskosten leuchten mir ein. Aber wie beziffert man Sterbefälle?
Für viele Nicht-Ökonom*innen ist das vielleicht unethisch oder eine Berechnung, die man so nicht anstellen sollte. Und natürlich ist jeder Todesfall einer zu viel. Nichtsdestotrotz ist es aus ökonomischer Sicht wichtig, ob junge Menschen sterben, die noch 50 Jahre gelebt hätten, oder 85-jährige, die vielleicht nur noch vier Wochen gelebt hätten. Während der Coronapandemie wird das unter dem Begriff der „Übermortalität“ subsumiert. Aus diesem Grund benutzt die Gesundheitsökonomie sogenannte „qualitätsadjustierte Lebensjahre“, um zu berechnen, wie viele standardisierte Lebensjahre verloren gehen, die Menschen in guter Gesundheit verbracht hätten. Mit verschiedenen Methoden wird dann versucht, den statistischen Wert eines Lebens zu berechnen. Es geht vor allem darum, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was man als Gesellschaft bereit ist, in den Schutz von Leben zu investieren. Und gängige Schätzungen sagen: Ein Lebensjahr ist der Bevölkerung in westlichen Industrienationen gut 100.000 Euro wert.
Woher kommen diese 100.000 Euro?
Das ist ein Wert, der aus vielen wissenschaftlichen Untersuchungen abgeleitet ist, in denen Menschen Entscheidungen treffen zwischen einem höheren Risiko zu sterben und monetären Aufwendungen. Das Standardbeispiel in der Literatur sind Airbags und Anschnallgurte im Auto, oder die Lohnzuschläge für besonders gefährliche Arbeit, auf die sich Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen geeinigt haben. Dahinter steht eine Vielzahl von Akteur*innen unserer Gesellschaft, die Geld investieren, um das Risiko eines frühzeitigen Todes zu senken oder ein höheres Sterberisiko zu kompensieren. Anhand dieser Abwägungen berechnen Ökonom*innen dann den monetären Wert, den die Gesellschaft einem menschlichen Leben implizit über gefällte Entscheidungen zuweist. Das klingt erstmal ein bisschen absurd, aber interessanterweise findet eine reichhaltige und jahrzehntealte Literatur, dass der Wert eines statistischen Lebens in Amerika oder Europa zwischen 5 und 10 Millionen Dollar liegt. Und wenn man diesen Wert auf ein Lebensjahr herunterbricht, kommt man auf ungefähr 100.000 Euro. Man kann auch ein bisschen weniger nehmen, oder ein bisschen mehr. Aber das Entscheidende ist: Es handelt sich nicht um konkrete monetäre Kosten, wie beispielsweise den Wegfall von Steuerzahlungen oder Arbeitskraft. Denn obwohl es solche Berechnungen durchaus gibt, stehen diese doch auf sehr wackeligen Annahmen, zumal man dann ja wiederum Kosteneinsparungen miteinberechnen müsste, zum Beispiel durch nicht ausbezahlte Renten. Nein, diese 100.000 Euro pro Lebensjahr sind lediglich eine Annäherung, wieviel die Gesellschaft bereit ist, in den Schutz von Leben zu investieren.
Ein anderes Beispiel wären neue medizinische Technologien, die stark untergewichtigen Neugeborenen das Leben retten. Den Fall hatten wir vor ein paar Jahren in meinem Freundeskreis: Das Kind kam in der 28. Schwangerschaftswoche auf die Welt und war nur 700 Gramm schwer. Die Ökonomie würde jetzt fragen: Ist es sinnvoll, Millionen an Euro in diese neue Technologie zu investieren, um das Leben des Kindes zu retten? Die Antwort solcher fast schon absurden Kosten-Nutzen-Analysen in der Gesundheitsökonomie ist aber immer fast „ja“, wenn es um neue Technologien geht. Denn bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren hat jedes Leben ja einen statistischen Wert von ungefähr 8 Millionen Euro. Und selbst wenn ein stark untergewichtiges Kind nun monatelang im Krankenhaus behandelt werden müsste, sind die Millioneninvestitionen nicht nur aus ethischer, sondern auch aus rein ökonomischer Sicht sinnvoll.
Das heißt, die monetären Kosten eines Sterbefalls ergeben sich aus dem Verlust der noch zu erwartenden Lebensjahre. Bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren würde eine 67-jährige Hitzetote in euren Berechnungen demnach 1,3 Millionen Euro Kosten produzieren, und eine 18-jährige 6,2 Millionen Euro?
Genau. Diese 100.000 Euro pro Lebensjahr sind eine Art Bewertungsmaßstab. Und dieser wurde auch während der Coronapandemie häufig eingesetzt: Man nimmt den Wert eines statistischen Lebensjahres, um die Kosten der Pandemie zu berechnen. Die Amerikaner implementieren beispielsweise auch Umweltschutzauflagen an der geschätzten Zahl von geretteten Menschenleben. Wir können ja sehen, wie die Luftverschmutzung Menschenleben kostet – und mithilfe dieser Methodik kann man Kosten-Nutzen-Analysen erstellen.