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Wie wird man kriminell?

Warum Flucht nicht die einzige Ursache sein kann

Und sie beginnt von Neuem: Die Suche nach dem „Warum?“ Wie kann ein Mensch solch eine schreckliche Tat begehen? Egal, ob der Täter sein Opfer vor einen Zug geworfen, vergewaltigt oder erschossen hat. Die Antwort scheint zunächst einfach: Migration. Menschen aus anderen Ländern seien grundlegend krimineller, gewalttätiger oder grenzüberschreitender. Vor allem Geflüchtete rücken in der Berichterstattung über Verbrechen in den Vordergrund. Sie kommen weniger wegen wirtschaftlichen Krisen, sondern aufgrund von Krieg oder Verfolgung nach Deutschland. Aber, ob sie wirklich krimineller sind als der Rest der Bevölkerung ist stark umstritten. Denn die Erklärung für kriminelles Verhalten lässt sich nie allein auf die Nationalität zurückführen.

 

Wer wird überhaupt kriminell?  

Der Forschungsbereich der Kriminologie beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit den Gründen für Verbrechen. Er besagt: Man lernt grenzüberschreitendes Verhalten schon als Kind, handelt impulsiv oder bricht das Gesetz aufgrund von Ohnmacht und Frustration. Darüber hinaus gibt es noch sehr viele weitere Gründe. Diese Gründe werden in Theorien festgehalten, wie beispielsweise in der Allgemeinen Kriminalitätstheorie nach Gottfredson und Hirschi, die kriminelles Verhalten vor allem auf ein Defizit an Selbstkontrolle zurückführt. Die Subkulturtheorie nach Cohen hingegen besagt, dass sich Menschen vor allem aus benachteiligten Schichten in Gruppen zusammentun, um durch kriminelles Verhalten Prestige und Anerkennung zu erlangen.

„Jede dieser Theorien hat ihre Berechtigung. Aber alle lassen sich auf drei Faktoren runterbrechen: Biologie, Psychologie und soziales Umfeld.“

Prof. Dr. Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle

„Jede dieser Theorien hat ihre Berechtigung“, sagt der Krimininalpsychologe Prof. Dr. Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle. „Aber alle lassen sich auf drei Faktoren runterbrechen: Biologie, Psychologie und soziales Umfeld.“ Laut Rettenberger entscheide das Zusammenspielen aller drei Faktoren darüber, ob jemand kriminell wird oder nicht.

Bezüglich der biologischen Faktoren spielt die Genetik eine wichtige Rolle. Hier sollen wie in einer Studie der Fachzeitschrift American Sociological Review einige Gene entscheidender für das Ausbrechen von kriminellen Verhalten sein als andere. Durch eine starke familiäre Bindung könnten sich solche Effekte aber schon als Kind stark abschwächen – zum Beispiel durch eine tägliche Mahlzeit mit der Familie. Zu den biologischen Faktoren kommen laut Rettenberger die psychologischen Faktoren. Sie beinhalten Einstellungen, Haltungen oder Persönlichkeitsmerkmale – wenn man zum Beispiel als Kind von seinen Eltern zum Schützenverein mitgenommen wird, lernt man früh, dass Waffen nichts Schlimmes sind. In Kombination mit anderen Faktoren kann dies später zu einer gewaltverherrlichenden Haltung führen. Zuletzt sei das soziale Umfeld entscheidend. Es bezeichnet sowohl das direkte Umfeld wie Freunde und Familie, als auch den größeren gesellschaftlichen Kontext.

Auch das soziale Umfeld kann ein relevanter Faktor für eine kriminelle Handlung sein. Selbst, wenn man gar nicht beabsichtigt, das Gesetz zu brechen. „Menschen, die hier aufwachsen, lernen über Jahre, was strafbar ist und was nicht“, so Rettenberger: „Das ist bei manchen Taten wie bei Mord eindeutig. Bei anderen Handlungen etwas schwieriger.“ Zum Beispiel: Laut einer Analyse des Bundeskriminalamts im Frühjahr 2019 wurden von Geflüchteten am meisten Vermögen- und Fälschungsdelikte begangen. Den Großteil machte die „Beförderungserschleichung“ aus – kurz: Schwarzfahren. „Da kann man überlegen: Vielleicht hatten die Menschen wirklich kein Geld“, sagt Rettenberger. „Vielleicht wussten sie aber einfach nicht, dass Bus oder Bahnfahren etwas kostet. In einigen Ländern muss man nichts bezahlen, in anderen müsste man es, aber niemand tut es und in wieder anderen gibt es gar keinen Nahverkehr.“

„Diese Erfahrungen von Gewalt könnten enorm die Hemmschwelle senken, selbst eine Tat zu begehen.“

Prof. Dr. Dominic Kudlacek, Hochschule Bremerhaven

Auch Prof. Dr. Dominic Kudlacek von der Hochschule Bremerhaven hebt die Bedeutung der Lebensumstände hervor. Laut dem Sozialwissenschaftler und Kriminologen fallen darunter psychologische Faktoren, sowie das soziale Umfeld. Aber man müsse sich immer die Gruppe anschauen, über deren Kriminalität gerade diskutiert wird.

Die meisten Menschen, die einen Asylantrag stellen sind junge Männer – eine Gruppe, die laut Kudlacek kulturübergreifend zu mehr Kriminalität neigt. In der Großstadt verstärke sich das Problem: Die geringere soziale Kontrolle und die vielen Möglichkeiten begünstigen straffällige Handlungen.

Auch der Fluchtverlauf kann einen großen Einfluss auf die Kriminalität haben. Dazu befragten Kudlacek und sein Team circa 1000 Menschen in Flüchtlingsunterkünften und konnten zeigen, dass mit der Fluchtlänge die Wahrscheinlichkeit für traumatische Erfahrungen steigt. Vor allem betroffen seien davon Geflüchtete aus Zentralafrika. Sie müssten lange Fluchtrouten hinter sich bringen, teilweise zwischendurch in anderen Ländern unter den Bedingungen von Sklaverei arbeiten und unter lebensbedrohlichen Bedingungen über das Mittelmeer fliehen. Möglicherweise mit fatalen Folgen: „Diese Erfahrungen von Gewalt könnten enorm die Hemmschwelle senken, selbst eine Tat zu begehen“, sagt Kudlacek. Zudem sorgten sie für Not und Verzweiflung, was ebenfalls ein Grund für kriminelles Verhalten sein kann.

 

Was kann man tun?

Laut Kudlacek müsste zunächst für jeden Geflüchteten beim Ankommen geprüft werden, was die Person braucht. Menschen, die mit dem Flugzeug eine kurze Anreise nach Deutschland hatten, benötigen vielleicht keine psychologische Fürsorge. Jemand, der einen harten Fluchtweg hinter sich hat vielleicht schon.

Nach dem Kriminalpsychologen Rettenberger sei vor allem eine schnelle Integration und ein klarer Aufenthaltsstatus entscheidend: „Für die Menschen ist es schwierig anzukommen, wenn sie immer damit rechnen müssen, wieder abgeschoben zu werden.“, sagt Rettenberger: „Warum sollten sie sich dann etwas aufbauen?“ Er sieht vor allem die Flüchtlingsheime als „Nährboden für Kriminalität“: Dort seien viele junge Menschen, die nichts mit ihrer Zeit anzufangen wüssten. Man müsse ihnen eine Perspektive geben, eine Chance sich selbst etwas aufzubauen und sie schnell in den Arbeitsmarkt integrieren. Denn wenn Menschen sich nicht willkommen fühlen, würden sie sich Gleichgesinnte suchen. Dies besagen auch Kulturkonflikttheorien, die fester Bestandteil der Kriminologie sind. „Das Zusammentun in Gruppen ist an sich nichts schlimmes“, sagt Rettenberger: „aber sie können sich in ihrem Gefühl der Ausgeschlossenheit bestärken. Und suchen sich vielleicht alternative Wege, um das zu bekommen, was sie gerne hätten.“

Um zu schauen, was den Geflüchteten hilft, müsse man laut Kudlacek und Rettenberger also immer die Lebensumstände berücksichtigen. Und diese auch in Deutschland verbessern. Die beiden Forscher sind sich einig: Kriminalität ist keine Frage des Passes, sondern der individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen.

 

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