Den auf die Währungsflucht folgenden Regulierungsversuch der türkischen Regierung kann der Blockchain-Experte nachvollziehen: „Aus türkischer Perspektive ist diese Regulierung durchaus verständlich. Man wollte verhindern, dass die Bevölkerung das Problem der hohen Inflationsrate umgeht, indem sie Kryptowährungen für Bezahlzwecke einsetzt.” Allerdings werde das Verbot keinen Effekt haben. „Die türkische Bevölkerung wird weiterhin Bitcoin und ähnliches kaufen, um aus der lokalen Währung zu flüchten”, so Sandner. Schließlich ist das Halten von und das Spekulieren mit Kryptowährungen nicht von dem Verbot betroffen.
Sandner sieht in Kryptowährungen eine Chance auf individuelle finanzielle Souveränität – gerade in Ländern mit sehr hoher Inflation und schwachen Institutionen. „Das ist aus meiner Sicht momentan der spannendste Einsatz von Bitcoin. In Nigeria und Venezuela, beispielsweise, kann man schon sehr gut sehen, wie der Bitcoin als Fluchtwährung dient”, so Sandner. Die Inflation der venezolanischen Währung Bolivar im Jahr 2020 wird auf 6500 Prozent geschätzt – ein enormer Wertverlust. Um ihre Ersparnisse nicht zu verlieren, tauschen viele Venezolaner*innen ihre Rücklagen deshalb in US-Dollar oder Kryptowährungen ein. Immer mehr Geschäfte akzeptieren digitale Zahlungsmittel. Aber diese Art der Währungsflucht steht nicht allen offen: Vielerorts ist die Internetverbindung noch nicht ausreichend gut. So ist es vor allem die Ober- und Mittelschicht, die Kryptowährungen zum Bezahlen und Sparen nutzt.
Nicht nur hohe Inflationsraten, auch ein lückenhaftes Bankennetz kann die finanzielle Souveränität gefährden, wenn dadurch der Zugang zu Bargeld und Finanzdienstleistungen erschwert wird. Volkswirt Peter Bofinger bezweifelt allerdings, dass Kryptowährungen in Ländern ohne flächendeckendes Bankennetz eine sinnvolle Lösung darstellen können. Vielmehr sieht er alternative Banking-Konzepte als die entscheidenden Treiber für mehr finanzielle Souveränität des Individuums. Kennzeichen dieser Entwicklung sind für ihn ganz besonders sogenannte Mobilfunkbanken, da für sie kein Internetzugang nötig sei. „Das bekannteste System ist M-Pesa in Kenia”, sagt Bofinger. „Dort findet der gesamte Zahlungs- und Bankenverkehr über Mobiltelefone statt. Dabei wird Guthaben auf SIM-Karten einbezahlt, das dann über das Mobilfunknetz an andere SIM-Karten-Inhaber*innen überwiesen werden kann. Ein- und Auszahlungen kann man bei autorisierten Händler*innen vornehmen lassen. Das ist sehr praktisch und dort bereits seit einigen Jahren etabliert.”