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Geht uns das Wundermittel aus?

Antibiotika und multiresistente Keime

Etwa 33.000 Menschen sterben in Europa jährlich an den Folgen von Infektionen mit multiresistenten Keimen. Bakterielle Infektionen, gegen die herkömmliche Antibiotika nicht mehr wirken. Weltweit liegt die Zahl der Todesfälle sogar bei 700.000. Gleichzeitig arbeiten immer weniger Pharmaunternehmen an der Entwicklung neuer Antibiotika oder haben die Entwicklung sogar gänzlich eingestellt. Wie dramatisch die Lage inzwischen ist, zeigt sich daran, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) multiresistente Keime als eine der größten Gesundheitsgefahren der kommenden Jahre wertet und Experten prognostizieren, dass diese bis 2050 mehr Todesopfer fordern könnten als Krebs.

Dass multiresistente Keime immer häufiger zum Problem werden, hat unterschiedliche Gründe. „Die hygienischen Zustände in Krankenhäusern, der Einsatz von Antibiotika in der Tierzucht und die falsche Verabreichung beim Menschen tragen alle dazu bei“, sagt. Prof. Dr. Marc Stadler vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI). Verschärft wird das Problem durch die allgemeine Zunahme des Antibiotikaverbrauchs. Wissenschaftler vom US-Forschungszentrum CDDEP haben errechnet, dass dieser in den letzten 15 Jahren weltweit um 65 Prozent gestiegen ist. Vor allem in wirtschaftlich aufstrebenden Ländern werden durch den Anstieg der Kaufkraft immer mehr Antibiotika verwendet. Das ist zunächst einmal positiv: Denn immer mehr Patienten, die eigentlich Zugang zu Antibiotika haben sollten, bekommen diesen inzwischen auch. So lassen sich immer mehr Erkrankungen tatsächlich heilen und dadurch Leben retten.

 

Infobox: Wundermittel Antibiotika

Als Sir Alexander Fleming 1928 das Penicillin als erstes Antibiotikum fand, lag die Lebenserwartung rund 20 Jahre geringer als heute. Bakterielle Entzündungen, Durchfall oder Lungenentzündung waren die häufigsten Todesursachen – Erkrankungen, die dank Antibiotika nur noch selten zum Tod führen. An einer Gehirnhautentzündung beispielsweise starben vor der Entwicklung des Antibiotikums weit über 90 Prozent aller Patienten – dank des Medikaments liegt die Sterblichkeit heute nur bei drei bis zehn Prozent.

Doch die Zunahme des Antibiotikaverbrauchs führt auch dazu, dass viele Bakterien eine Resistenz gegen die Antibiotika entwickelt haben und sich nicht mehr behandeln lassen. Da sich Bakterien sehr schnell vermehren, kann sich ihr Erbgut besonders schnell durch Mutationen verändern und an neue Umstände – und dazu zählt auch der Angriff durch Wirkstoffe – anpassen. Eine zufällige Resistenz wird so im bakteriellen Genmaterial verankert und an die kommenden Generationen des Bakterienstamms weitergegeben. Die Folge: Der spezifische Wirkstoff des Antibiotikums verliert seine Wirkung.

Um resistente Bakterien dennoch erfolgreich zu behandeln, muss man auf bislang zurückgehaltene oder neue Antibiotika zurückgreifen. Die WHO klassifiziert sämtliche Antibiotika in drei Kategorien: In der ersten Kategorie („access“) finden sich solche, die routinemäßig bei den gängigsten Infektionen eingesetzt werden sollen. Die zweite Kategorie („watch“) listet Antibiotika mit einem höheren Potenzial Resistenzbildung zu befördern und die daher nur zur Anwendung kommen sollen. Und schließlich gibt es eine „Reserve“, die nur als letzter Ausweg verwendet werden sollte.

„Insgesamt brauchen wir weltweit mehr Aufklärung darüber, wie die existierenden Antibiotika verantwortlicher verwendet werden.“

Dr. Peter Beyer, WHO

In der Realität wird diese Rangfolge jedoch nicht immer eingehalten, sondern Antibiotika oft falsch eingesetzt. „Insgesamt brauchen wir weltweit mehr Aufklärung darüber, wie die existierenden Antibiotika verantwortlicher verwendet werden, um die Resistenzbildung zu vermeiden“, sagt Dr. Peter Beyer, Senior Advisor in der Abteilung „Antimicrobial Resistance“ bei der WHO. Denn selbst die Wirkung der Reserve-Antibiotika lässt immer mehr nach und der Vorrat wirksamer Antibiotika schrumpft bedenklich.

Ein Ausweg ist daher die Erforschung und Entwicklung neuer Antibiotika. Während allerdings die Gefahr vor multiresistenten Keimen steigt, ist die Entwicklung neuer Antibiotika in den letzten Jahren immer mehr zurückgefahren worden. Bis in die 1990er forschten noch nahezu alle großen Pharmaunternehmen an neuen Antibiotika – inzwischen tun dies nur noch vier der 25 weltweit größten Unternehmen. Mit Astra-Zeneca, Novartis, Sanofi und Johnson & Johnson zogen sich in den letzten drei Jahren zudem vier komplett aus der Antibiotikaforschung zurück.

Als Grund vermuten die Experten vor allem wirtschaftliche Überlegungen. „Für Pharmaunternehmen ist die Entwicklung eines neuen Medikaments gegen chronische Krankheiten oder individualisierte Medikamente deutlich lukrativer als ein neues Antibiotikum“, sagt Stadler. Und auch Dr. Peter Tinnemann, Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen an der Charité Berlin sagt: „Die börsennotierten Pharmaunternehmen versuchen immer mehr Gewinne aus ihren Produkten herauszuziehen und im Vergleich zu anderen Medikamenten ist die Entwicklung von Antibiotika für sie einfach nicht mehr profitabel. Und wo die Industrie keine Profite sieht, findet auch keine Forschung statt“.

Aus wirtschaftlicher Sicht ist das durchaus nachvollziehbar, denn die Entwicklung eines neuen Wirkstoffs ist langwierig und kostenintensiv. Bis zu 15 Jahre kann es dauern, bis ein Medikament auf den Markt gebracht werden kann. Dazu kommt, dass der Marktanteil neuer Antibiotika häufig klein ist. „Ein neues Antibiotikum konkurriert zwangsläufig mit den existierenden günstigen Generika und wird oft nur dann eingesetzt, wenn diese nicht mehr wirken. Deswegen ist der Markt dafür oft sehr klein. Wenn neue Antibiotika sich auf dem Markt durchsetzen wollen, müssen sie entscheidenden klinischen Mehrwert liefern“, sagt Beyer. Außerdem werden Antibiotika, anders als beispielsweise Medikamente bei chronischen Erkrankungen, oft nur wenige Tage oder Wochen eingenommen.

„Wir finden sehr viele neue Wirkstoffe, aber längst nicht alle eignen sich für die Anwendung gegen Infektionskrankheiten beim Menschen.“

Prof. Dr. Marc Stadler, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung

Auch kleine und mittelständische Pharmaunternehmen haben sich zuletzt immer mehr aus der Entwicklung neuer Antibiotika zurückgezogen. Der Grund: Es kann bis zu einer Milliarde Dollar kosten, um einen neuen Wirkstoff mit neuem Grundgerüst und Wirkungsweise zu entwickeln – nicht mit eingerechnet die Kosten für die Zulassung, Herstellung und Vermarktung. Summen, die kleinere Unternehmen schlicht oftmals ohne zusätzliche Investoren nicht stemmen können. Zuletzt produzierte die Insolvenz des amerikanischen Unternehmens Achaogen Schlagzeilen, welches zwar einen neuen Wirkstoff erfolgreich entwickelte, die Kosten für Vermarktung und Produktion aber nicht aufbringen konnte.

Wie aufwendig die Entwicklung neuer Wirkstoffe ist, zeigt sich am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Dort wird an neuen Antibiotika aus der Natur geforscht. Pilze und Bodenbakterien, die aus der ganzen Welt stammen, bilden chemische Substanzen, die als Grundlage für das neue Antibiotika dienen können. „Wir isolieren die natürlichen antibiotischen Abwehrsubstanzen aus Bakterien und Pilzen und prüfen dann zunächst, ob sich diese für die präklinische Entwicklung eignen. Allein das kann schon mehrere Jahre dauern“, sagt Stadler, Leiter der Abteilung Mikrobielle Wirkstoffe.

Doch selbst wenn die Forscher auf geeignete Substanzen stoßen, bedeutet dies nicht, dass sie später tatsächlich auch als Antibiotikum auf den Markt kommen. „Wir finden sehr viele neue Wirkstoffe, aber längst nicht alle eignen sich für die Anwendung gegen Infektionskrankheiten beim Menschen. Einige Stoffe sind zu instabil, andere zu toxisch und vor allem die Zugänglichkeit ist oft ein Problem. Für unsere Tests brauchen wir oft nur wenige Milligramm, aber für die Klinik braucht es mehrere Kilogramm, das ist oftmals die größte Herausforderung“, so Stadler. Hinzu komme, so Stadler, dass durch den zunehmenden Rückzug der Pharmaunternehmen immer mehr Aufgaben bei den öffentlichen Forschungseinrichtungen lägen und diese dadurch weitaus mehr Geld investieren müssen. Das Zusammenspiel zwischen Grundlagenforschung und Industrie ist also aus der Balance geraten.

 

„Schon jetzt wird all die Grundlagenforschung an Universitäten und Forschungszentren öffentlich finanziert. Wir sollten daher den Einfluss der Pharmaindustrie eindämmen und noch mehr Gelder in öffentliche Forschung stecken.“

Dr. Peter Tinnemann, Charité Berlin

„Schon jetzt wird all die Grundlagenforschung an Universitäten und Forschungszentren öffentlich finanziert. Wir sollten daher den Einfluss der Pharmaindustrie eindämmen und noch mehr Gelder in öffentliche Forschung stecken. Denn nur so wird gesichert, dass überhaupt weiterhin an Antibiotika geforscht wird“, sagt Tinnemann. Anderer Meinung ist hingegen Marc Stadler: „Man muss für die Pharmaunternehmen viel mehr Anreize schaffen, dass sie ihr Geld mehr in die Antibiotikaforschung investieren und nicht für andere Indikationen ausgeben. Das HZI hat beispielsweise eine enge Kooperation mit der Evotec AG, in der die Partner ihre Plattformen zur Entwicklung neuer Antibiotika vereinen. Im Fokus stehen Wirkstoffkandidaten wie die Cystobactamide gegen gefährliche gramnegative Krankheitserreger.“

Insbesondere die Kommerzialisierung der Forschungsergebnisse hält Tinnemann für problematisch: „Es ist bislang so, dass vieles, was aus der öffentlich finanzierten Forschung herauskommt, kommerzialisiert wird und die Schutz- und Eigentumsrechte an Pharmaunternehmen verkauft werden.“ Tatsächlich werden oftmals vor allem die neu entwickelten Stoffe auslizensiert und gewinnbringend verkauft. Dennoch haben öffentliche Forschungsinstitute Möglichkeiten, um an dem Gewinn des Wirkstoffs beteiligt zu werden.

Um sicherzustellen, dass die Antibiotika-Forschung weiter vorangetrieben wird, hat die WHO einen anderen Weg gewählt. Gemeinsam mit der Drugs for Neglected Dieseases inititative (DNDi) hat sie 2016 die Global Antibiotic Research & Development Partnership (GARDP) gegründet, die Hand in Hand mit kleinen Antibiotikaunternehmen dringend benötigte Medikamente entwickelt. Dort steht die Forschung an Wirkstoffen gegen antimikrobielle Resistenzen im Mittelpunkt. „GARDP entwickelt vor allem fehlende Wirkstoffe, die die Industrie nicht machen würde, weil es sich finanziell nicht lohnt und die die größten Forschungslücken adressieren“, sagt Beyer.

Finanziert wird GARDP durch Industriepartnerschaften und die Beteiligung einzelner Staaten – Deutschland beispielsweise hat einen Beitrag von 56,5 Millionen Euro dafür zur Verfügung gestellt. Und auch einen ersten Erfolg hat GARDP bereits zu vermelden: Eines der entwickelten Wirkstoffe durchläuft als spezifisches Antibiotika gerade den letzten Schritt der klinischen Studien. „Wir hoffen, dass GARDP damit zeigen kann, dass es in Partnerschaft mit kleinen Unternehmen möglich ist, dringend benötigte Wirkstoffe zeit- und kosteneffizient zu entwickeln“, so Beyer.

 

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