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„Über die Langzeitwirkung von Nudges weiß man nur wenig.“

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Lucia Reisch

Welches Menschenbild liegt der Verhaltensökonomik zugrunde?

Die Verhaltensökonomik basiert auf einem empirischen, realistischen Menschenbild und baut auf die Annahme einer begrenzten Rationalität (bounded rationality theory) auf. Diese besagt, dass eine vollständige und uneingeschränkte Rationalität in der realen Welt nicht möglich ist und die Handlungssouveränität durch die faktisch begrenzenden Bedingungen der Realität eingeschränkt wird. Die Annahme steht dem klassischen Modell des homo oeconomicus entgegen, welches für das tatsächliche Verhalten eines Individuums außerhalb von Modellen recht wenig bringt. Das Ziel der Verhaltensökonomik ist es vielmehr zu erklären, was Individuen tatsächlich tun, wenn sie beispielsweise unter Zeitdruck stehen oder emotional aufgewühlt sind.

Inwieweit schränken diese Emotionen die Rationalität in der Entscheidungsfindung ein?

Unter Rationalität im ökonomischen Sinne versteht man vor allem die Nutzenmaximierung und dass Menschen streng ihren Präferenzen folgen. Menschen verhalten sich in der Realität aber keineswegs immer so – noch nicht einmal meistens. Aus evolutorischer Sicht haben sich menschliche Verhaltensweisen über die letzten Jahrtausende entwickelt und vieles von unserem Verhalten ist habituell, intuitiv gesteuert und kann trotzdem sehr rational und nutzenstiftend sein. Verhaltensökonomen sagen daher nicht, dass Menschen irrational handeln, sondern dass sie eine andere Form von Rationalität haben, die nicht dem engen ökonomischen Modell entspricht. Und genau da setzt das Konzept des Nudging an.

„Das Ziel von Nudging ist es, dass Individuen selbst dazu kommen, die maximal wohlfahrtssteigernde Alternative zu wählen.“

Der entscheidende Ansatz von Nudging ist also, dass man versucht, Individuen dazu zu bringen, sich jeweils für die bessere oder richtige Option zu entscheiden?

Ja. Das Ziel von Nudging ist es, dass Individuen selbst dazu kommen, die maximal wohlfahrtssteigernde Alternative zu wählen. Also jene Option, die sie wählen würden, wenn sie über vollkommene Information verfügten, langfristig denken und auch ausreichend Selbstkontrolle für ein langfristiges Handeln hätten. Natürlich geht es dabei aber nicht nur um die Verhaltensweisen von Individuen, sondern auch um die Wohlfahrtssteigerung einzelner Gruppen und der Gemeinschaft als Ganzes.

Es lassen sich allgemein zehn unterschiedliche Arten von Nudges voneinander abgrenzen. Wie unterscheiden sich diese voneinander in der Wirkung?

Diese zehn Arten sind eher aus einer praktischen Sicht beschrieben. Diese Kategorisierung ist aber nicht abschließend und es kommen auch stetig neue Ansätze dazu. Wissenschaftlich betrachtet lässt sich gar nicht so einfach feststellen, ob die eine oder andere Art des Nudges grundsätzlich besser oder schlechter ist – da fehlt es auch noch an Evidenz.

Weiß man, ob bestimmte Nudges für einen gewissen Anwendungsbereich oder für eine Zielgruppe besser funktionieren als andere?

Es ist recht schwer, auf einer allgemeinen Ebene über die Wirkung von Nudges zu sprechen. Ganz generell kommt es für den Erfolg eines Nudges immer darauf an, dass es die richtige Zielgruppe im richtigen Moment im richtigen Umfeld mit dem richtigen Nudge trifft. Es gibt aber beispielsweise Hinweise darauf, dass Frauen allgemein offener als Männer für Nudges sind und im Ernährungsbereich dem noch positiver gegenüberstehen. Aber das sind nur erste Hinweise. Denn für die jeweilige Wirkung spielen eine Vielzahl an Faktoren eine Rolle.

„Nudges, die beispielsweise bei dem Aufzeigen von sozialen Normen ansetzen, wirken in eher individualistischen Gesellschaften ganz anders als in kollektivistischen Gesellschaften.“

Welche Faktoren sind das?

Grundsätzlich hat man bei der Wirkung von Nudges immer ein dreidimensionales Konstrukt: Den Nudge, die entsprechende Thematik und die gewählte Zielgruppe. Dadurch wird es unglaublich schwierig, die konkrete Wirkung einzelner Nudges miteinander zu vergleichen. Dazu kommt, dass auch die kulturelle Dimension eine große Rolle spielt. Nudges, die beispielsweise bei dem Aufzeigen von sozialen Normen ansetzen, wirken in eher individualistischen Gesellschaften ganz anders als in kollektivistischen Gesellschaften. Auch das ist also ein wichtiger Faktor. Andererseits gibt es Hinweise, dass sogenannte Defaults – also die Veränderung von Voreinstellungen – in unterschiedlichsten Gesellschaften eine vergleichbare Wirkung haben und gleichermaßen akzeptiert werden.

Bei welchen Gruppen haben Nudges eine besonders große Wirkung?

Dazu gibt sehr interessante Studienergebnisse aus der Armutsforschung. Personen, die relativ wenig Möglichkeiten haben, unterschiedliche Optionen abzuwägen, profitieren am meisten von Nudges, die an den Voreinstellungen ansetzen. Denn ein Default ist grundsätzlich so eingestellt, dass er hilft. Gerade bei Geldanlageformen oder Rentenversicherungen hat das einen enormen wohlfahrtspolitischen Effekt. In Deutschland gibt es auch schon lange eine Diskussion um ein mögliches staatliches Vorsorgekonto, was wie ein solcher Default wirken würde.

Inwieweit ist Nudging nachhaltig und langfristig wirksam?

Man kann davon ausgehen, dass Nudges dann längerfristiger wirken, wenn sie hinreichend häufig wiederholt werden – auch wenn die Wirkung über die Zeit abnimmt. Verhaltensänderungen bleiben vor allem länger erhalten, wenn wirklich Strukturen verändert werden – unabhängig davon, ob es kleinere Strukturen, wie die Positionierung eines Produkts in einem Supermarkt, oder auch große Strukturen, wie die Umgestaltung einer Infrastruktur hin zu einer fahrradfreundlichen Stadt sind.

„Wir haben in über 20 verschiedenen Ländern die Akzeptanz von Nudges untersucht. Dabei kam raus, dass Deutschland in dem Drittel der Länder liegt, wo Nudges überwiegend begrüßt werden.“

Wie erleben Sie aktuell die Diskussion um Nudging in Deutschland?

Es ist immer wieder zu hören, dass die Menschen in Deutschland Nudging ablehnen und die Debatte um eine stärkere Einbeziehung von verhaltensökonomischer Expertise in der Politik vor einigen Jahren hat maßgeblich zu dieser Situation beigetragen. Aber unsere Forschungsergebnisse zeigen ein ganz anderes Bild. Wir haben in über 20 verschiedenen Ländern die Akzeptanz von Nudges untersucht. Dabei kam raus, dass Deutschland in dem Drittel der Länder liegt, wo Nudges überwiegend begrüßt werden. Natürlich wurde die Erhebung zu sehr spezifisch eingesetzten Nudges beispielsweise zu Gesundheits-, Umwelt- und Sicherheitsfragen durchgeführt – aber sofern der konkrete Handlungsbedarf in einem Bereich sichtbar ist, werden Nudges längst nicht so negativ gesehen, wie es von Kritiker*innen teilweise argumentiert wird.

Was entgegnen Sie Kritiker*innen von Nudging?

Es sind immer dieselben Argumente, die als Kritik angebracht werden: Besonders häufig wird genannt, dass Nudging in Konkurrenz zu anderen Instrumenten der Politikgestaltung stünde. Ich muss aber ganz klar sagen: Nein, Nudging soll nicht andere Politikinstrumente ersetzen. Dort, wo man Gesetze braucht, wird es auch weiterhin Gesetze geben. Aber es lässt sich eben nicht alles durch Gesetze und Vorschriften regeln – soziale Normen, Reminder und Vorbilder sind ebenso unerlässlich. Daher braucht es vielmehr die Kombination verschiedenster Instrumente und die Offenheit, auch verhaltensökonomische Ansätze mit in die Politikgestaltung aufzunehmen, um so gigantischen Herausforderungen wie denen im Umwelt- und Klimaschutz beispielsweise erfolgreich zu begegnen.

Zur Person

Die Verhaltensökonomin Prof. Dr. Lucia Reisch ist Professorin für interkulturelles Konsumverhalten und europäische Verbraucherpolitik an der Copenhagen Business School und der Zeppelin Universität. Ab September 2021 leitet sie das neu geschaffene Institut für Verhaltensökonomie und -politik an der University of Cambridge.

Foto: Rat für nachhaltige Entwicklung

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