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Wenn Wissen verunsichern kann

Über pränatale Bluttests als Kassenleistung

Jahrelang wurde darum gestritten, jetzt ist es Gesetz: Ab 1. Juli 2022 übernehmen Krankenkassen in Deutschland die Kosten für nicht invasive Pränataltests, kurz NIPT. Mit einer einfachen Blutentnahme sollen werdende Eltern damit in den ersten Wochen der Schwangerschaft Auskunft über genetisch bedingte Behinderungen ihres Kindes erhalten.

Gesucht wird mit den Tests gezielt nach Trisomien, beispielsweise dem Down-Syndrom. Die Kritik an den Tests reicht von mangelnder Verlässlichkeit bis hin zu dem Vorwurf, sie dienten der Selektion und veränderten den Blick der Gesellschaft auf Menschen mit Behinderungen. Befürworter verweisen vor allem darauf, dass die Tests – im Gegensatz beispielsweise zur Fruchtwasseruntersuchung – völlig ungefährlich seien. Grund genug für eine Debatte: In den kommenden Wochen befassen wir uns daher mit den medizinischen und ethischen Implikationen von Pränataldiagnostik und der Kontroverse um die neuerdings kassenfinanzierten nicht invasiven Tests.

„Ziel unserer Beratung ist immer die mündige Patientin.“

Prof. Dr. Alexander Scharf, niedergelassener Pränatalmediziner in Mainz

Untersuchungen während der Schwangerschaft dienen grundsätzlich der Gesundheit der Schwangeren sowie der Früherkennung von Krankheiten des Embryos: Liegen genetische Abweichungen vor, die auf eine Behinderung oder Beeinträchtigung hindeuten könnten? Oder deuten der Pränataltest sowie andere pränataldiagnostische Verfahren eher darauf hin, dass der Embryo gesund geboren ist? Mit solchen Fragen kommen Schwangere in die Praxis von Frauenärzt*innen und Pränatalmediziner*innen.

„Ziel unserer Beratung ist immer die mündige Patientin“, sagt Prof. Dr. Alexander Scharf. Bis 2010 arbeitete der Pränatalmediziner an verschiedenen Krankenhäusern, zuletzt als stellvertretender Direktor der Universitätsfrauenklinik Heidelberg. Heute ist er in eigener Praxis tätig. „Mündig“ bedeutet für Scharf, dass sich eine werdende Mutter darüber im Klaren ist, ob sie vor der Geburt überhaupt Aufklärung über mögliche Beeinträchtigungen ihres Kindes wünscht. Und falls ja: Wie weitgehend die Informationen sein sollen. Schließlich: Welche Konsequenzen will sie für sich persönlich ziehen, falls die Untersuchungen körperliche oder genetische Auffälligkeiten zeigen?

Der Vorteil der nicht invasiven Tests gegenüber invasiver Pränataldiagnostik wie der Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) und der Plazentapunktion (Chorionzottenbiopsie) scheint zunächst klar, denn letztere sind mit einem – wenn auch geringen – Fehlgeburtsrisiko verbunden. Und zumindest mit Blick auf die Diagnose Down-Syndrom sind sie zumindest bei Schwangeren ab 40 Jahren relativ genau.

„Nur jeder siebte bis achte Test, der auffällig ist, bedeutet tatsächlich ein krankes Kind.“

Prof. Dr. Alexander Scharf, niedergelassener Pränatalmediziner in Mainz

Mit der Neuregelung werden die Bluttests auf die Trisomien 13, 18 und 21 aber nicht nur für ältere oder gesundheitlich vorbelastete Schwangere kostenlos verfügbar, sondern „dem Lowrisk-Kollektiv der knapp 800.000 jährlich entbindenden Schwangeren – und zwar ohne jegliche wissenschaftlich-medizinische Indikation“, sagt Scharf. Letzteres sei Folge der vom Gemeinsamen Bundesausschuss gewählten vagen, unpräzisen Formulierung zur Berechtigung der Inanspruchnahme. Er gehe davon aus, dass mehr als 90 Prozent eines Geburtsjahrgangs an Schwangeren den kostenlosen Test in Anspruch nehmen, so der Mediziner. „Doch weil im medizinischen Sinne indikationslos und quasi in der Gesamtheit der Schwangeren gesucht wird, kommt es zu einem hohen Anteil an Auffälligkeiten bei tatsächlich Gesunden.“ Wirklich zutreffend seien die Ergebnisse dann lediglich bei zehn bis 15 Prozent. Das heißt: „Nur jeder siebte bis achte Test, der auffällig ist, bedeutet tatsächlich ein krankes Kind.“  Je jünger die Schwangere, desto unzuverlässiger ist der Test. Deshalb biete der Test auch keine Diagnose, aus der eine medizinische oder soziale Konsequenz gezogen werden könne. Dafür seien eine Fruchtwasseruntersuchung oder eine Plazentapunktion unerlässlich. „Ein Test kann diese Diagnosen nicht ersetzen, auch wenn das oft behauptet wird“, sagt Scharf. Im Gegenteil: „Ich fürchte, die Punktionszahlen werden – getriggert durch NIPT – weiter ansteigen.“

Auch die Erziehungswissenschaftlerin und Heilpädagogin Prof. Dr. Marion Baldus von der Hochschule Mannheim geht davon aus, dass der verstärkte Einsatz von NIPT zu mehr Punktionen führen wird. Sie kritisiert vor allem regelhafte NIPTs bei jungen Frauen mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit für eine Trisomie.

Außerdem: Neben den jetzt kassenfinanzierten Tests auf Trisomien gibt es auf dem Markt auch Bluttests, die eine falsch-positiv Rate von bis zu 90 Prozent aufwiesen. So berichtet Baldus von Studien aus den Niederlanden, die zeigten, dass bei Tests, die nach genetischen Anzeichen für eine Behinderung oder Beeinträchtigung suchen und dafür das komplette Genom untersuchen, die Fehlerquote bei sehr selten auftretenden chromosomalen Veränderungen bei 89 Prozent liegt: „Das heißt, dass von 100 Frauen 89 Frauen unnötigerweise beunruhigt wurden, sie könnten ein Kind mit einer Behinderung gebären.“ 

Die ganz überwiegende Zahl von NIPT sorgt aus Sicht von Scharf und Baldus für Verunsicherung, nicht für Klarheit. „Damit widerspricht NIPT dem Ziel der Pränataldiagnostik, die informieren und eine Entscheidungsgrundlage bieten will“, so Alexander Scharf. Durch die Einführung von NIPT als Leistung der Krankenkassen werde der Test aber offiziell geadelt und zum Standardverfahren erhoben. Und Baldus meint: Wenn solche Tests von der Solidargemeinschaft finanziert werden – wie das der Fall ist, wenn Krankenkassen die Kosten übernehmen – dann setze der Staat damit ganz klar eine Botschaft: „Wir haben ein Interesse daran, dass möglichst viele Frauen die Tests nutzen.“

„Nur 10 Prozent der werdenden Eltern entscheiden sich für ein Kind mit Trisomie 21.“

Prof. Dr. Marion Baldus, Professorin für Allgemeine Pädagogik und Heilpädagogik an der Hochschule Mannheim

Das ruft Behindertenverbände auf den Plan, aus deren Sicht die Kostenübernahme für Bluttests das Signal sendet, dass Menschen mit Trisomie nicht zur Welt kommen sollten. Das führe zu Ausgrenzung und Diskriminierung. Andere vorgeburtliche Untersuchungen wie der Ultraschall hätten das Ziel, Eltern Informationen über medizinisch sinnvolle Handlungsoptionen für den weiteren Verlauf der Schwangerschaft, für die Geburt oder die Zeit danach mitzugeben. Wer weiß, was dem Kind fehlt, kann dann gegebenenfalls in einer Spezialklinik entbinden oder sich schon Wochen vor der Geburt um wichtige Unterstützung bemühen.  NIPT suchten jedoch ausschließlich nach genetischen Varianten wie dem Down-Syndrom, die nicht therapierbar seien und auch nicht behandelt werden müssten. Die einzige Handlungsoption, die sich für werdende Eltern aus einem solchen Testergebnis ergebe, sei die Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch.

Die Kritik der Verbände und verschiedener Zivilgesellschaftlicher Organisationen, dass dies selektiven Charakter habe, ist auch aus Sicht von Marion Baldus nicht von der Hand zu weisen: „Nach einer Diagnose auf Trisomie 21 werden in Europa 90 Prozent der Schwangerschaften abgebrochen, nur 10 Prozent der werdenden Eltern entscheiden sich für ein Kind mit Trisomie 21.“ – Damit müsse die Gesellschaft sich auseinandersetzen, ist Alexander Scharf überzeugt: „Denn Sicherheit oder eine Garantie auf Perfektion wird es nie geben.“

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