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Das ‚gute Leben‘

Pränataldiagnostik im Kontext sozialer Normen

Nicht invasive Bluttests auf Trisomien werden in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Gegner*innen kritisieren den selektiven Charakter vorgeburtlicher Untersuchungen: „In vielen Fällen zielt das Angebot auf die Verhinderung der Geburt von Kindern mit  den gesuchten unerwünschten Merkmalen“, schreibt das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik. Da es für Trisomien keine Behandlungsmöglichkeit gibt, stehen werdende Eltern vor allem vor einer Frage: Fortführung oder Abbruch der Schwangerschaft?

Mit der Kostenübernahme pränataler Untersuchungen gehen nicht nur medizinische, sondern auch ethische und grundlegende gesellschaftliche Fragen einher: Wie hängt unsere Vorstellung von einem ‚guten Leben‘ mit Gesundheit und Krankheit zusammen? Und welche Rolle spielt in diesem Kontext die Pränataldiagnostik?

Die soziale Vorstellung eines ‚guten Lebens‘

„Bereits in der Antike hatte man konkrete Vorstellungen davon, wie ein gutes Leben aussehen soll“, erklärt der Medizinhistoriker und -ethiker Prof. Dr. Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Ulm. Auch Dr. Christopher Kofahl, stellvertretender Institutsdirektor des Instituts für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf sagt: „Wir alle wünschen uns gute Gesundheit. Das ist das Idealbild.“ 

Die genaue Definition von einem ‚guten Leben‘ ist individuell, aber gleichzeitig auch von gesellschaftlichen Idealen und einer sozialen Normierung geprägt. Auch wenn die Gesundheit den Idealzustand darstellt, betont Steger: „Krank sein heißt nicht automatisch, kein gutes Leben zu führen.“ Vielmehr habe der Zustand des Krankseins unterschiedliche Perspektiven: „Ein kranker Mensch kann durchaus Präferenzen haben, die für ihn ein gutes Leben ausmachen und die er verwirklicht sehen möchte: spazieren gehen, selbst essen können oder sich selbst waschen können.“

„Ich denke, dass ein gutes Leben nicht zwingend an einen körperlichen Zustand gebunden ist, sondern auch im Zusammenhang mit sozialer Akzeptanz zu sehen ist.“

Dr. Christopher Kofahl, stellvertretender Institutsdirektor des Instituts für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Auch Kofahl hält es für kurzsichtig, nur Gesundheit mit einem ‚guten Leben‘ gleichzusetzen: „Ich denke, dass ein gutes Leben nicht zwingend an einen körperlichen Zustand gebunden ist, sondern auch im Zusammenhang mit sozialer Akzeptanz zu sehen ist.“ Hierzu führt er das Beispiel einer im Verlauf des Lebens auftretenden Behinderung an: „Es gibt Betroffene, die sagen, die Diagnose hätte ihr Leben verbessert. Sie lebten bewusster und wertschätzender. Daher denke ich nicht, dass eine Behinderung automatisch ein schlechtes Leben bedeutet. Unabhängig davon, ob diese Behinderung angeboren ist oder nicht.“ 

Niemand kann ein späteres Leben vorhersehen

Beide Wissenschaftler sind sich einig, dass die Vorstellung vom ‚guten Leben‘ einen Einfluss darauf hat, ob sich Paare für oder gegen Pränataldiagnostik entscheiden.

Schwangere, die pränatale Untersuchungen auf genetische Erkrankungen in Anspruch nehmen, werden bei einem positiven Befund mit einer schwierigen Entscheidung konfrontiert: Möchten sie die Schwangerschaft fortführen oder nicht? 

„Es geht in erster Linie um die Entscheidung, ob man dieses ungeborene Leben austragen möchte oder nicht. Darauf gibt es sicherlich keine einfache Antwort.“

Prof. Dr. Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Ulm

Steger spricht sich für eine neutrale Betrachtung des hoch emotionalen Themas aus: „Wir diskutieren über ungeborenes Leben und sprechen zunächst über einen Embryo, also primär Zellverbände. Wir beurteilen kein Kind. Über ein Kind zu verfügen, kann sich niemand anmaßen.“ Biologisch betrachtet, könne niemand vorhersagen, wie sich das Kind de facto entwickelt und wie stark sich eine diagnostizierte genetische Erkrankung im späteren Leben auswirkt. „Es lässt sich auch nicht voraussehen, wie ein Individuum später leben möchte. Man kann sich nur ein Gesamtbild vorstellen und auf dieser Basis eine Entscheidung treffen.“ Daher sei auch hier eine differenzierte Betrachtung notwendig, so Steger: „Es geht in erster Linie um die Entscheidung, ob man dieses ungeborene Leben austragen möchte oder nicht. Darauf gibt es sicherlich keine einfache Antwort. Diese Entscheidung hängt von vielen Faktoren wie zum Beispiel der Entwicklungsphase des Embryos ab.“

Auch Kofahl ist dieser Meinung: „Ich glaube, dass niemand eine Abtreibung leichtfertig vornimmt, die mit einem positiven pränatalen Befund im Raum steht.“ Insbesondere bei nicht invasiver Pränataldiagnostik erhalten die Paare als Befund lediglich eine Wahrscheinlichkeit. Entscheide man sich nach einem positiven Befund für eine Abtreibung, was viele Kritiker*innen durch die Kostenübernahme des nicht invasiven Pränataltests (NIPT) nun befürchten, bleibe die Unsicherheit: „Was wäre, wenn das Kind doch keine Behinderung gehabt hätte? Diese Entscheidung ist herausfordernd. Ich denke, dass das Recht auf Nichtwissen auch eine abzuwägende Entscheidung darstellt, weshalb sich viele Schwangere bzw. Paare gegen eine Pränataldiagnostik entscheiden.“

„Ich möchte jeder schwangeren Person Mut machen, die sozialen Normierungen kritisch zu hinterfragen.“

Prof. Dr. Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Ulm

Beide Wissenschaftler sind sich einig: Soziale Normen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind entscheidend. „Wenn dieser Bluttest nun mehr oder minder jeder schwangeren Person zur Verfügung steht, dann lastet ein großer sozialer Druck auf Schwangeren: Die Gesellschaft verfügt über eine Normvorstellung, wie ein ideal heranwachsendes Leben definiert ist. Ich möchte jeder schwangeren Person Mut machen, diese sozialen Normierungen kritisch zu hinterfragen“, sagt Steger.

Grundsätzlich verurteilt der Medizinethiker die Pränataltests jedoch nicht: „Der NIPT wurde eingehend geprüft und ist aus medizinischer Sicht ein Fortschritt. Diesen Fortschritt aufzuhalten, wäre ethisch schwer zu rechtfertigen.“ Er verhindere in vielen Fällen den Eingriff durch invasive Verfahren, die das Risiko einer Fehlgeburt bergen.

Steger appelliert daher vor allem an die Gesellschaft: „Wir sind als Bürger*innen dazu aufgefordert, eine informierte Debatte zu führen und dieser Entscheidung der Schwangeren den sozialen Druck zu nehmen.“

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