Schwangere hält Ultraschallbild vor ihren Bauch

Bringt der medizinische Fortschritt den Fokus aufs Risiko?

Über die historische Entwicklung der Pränataldiagnostik und die Medikalisierung der Schwangerschaft

Nach dem Ersten Weltkrieg starb noch etwa jedes zehnte Kind vor seinem ersten Geburtstag – heute sind es nur noch etwa 3 von 1000 Kindern. Diese niedrige Zahl ist auch ein Verdienst der Pränataldiagnostik. Gleichzeitig sorgt diese Medikalisierung, aber auch für eine „nie da gewesene Fokussierung auf potenzielle Risiken” in der Schwangerschaft, wie Kritiker*innen anmerken. Zentral dafür sei, dass sich die Versorgung von Schwangeren weg von Hebammen hin zu Ärzt*innen verschoben habe.

Von der Visualisierung des Embryos zur Entschlüsselung der Gene

Die Betreuung der Geburt und des Wochenbetts durch Hebammen lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Mit Gustav Döderlein begannen Gynäkolog*innen sich in den 1940er-Jahren mit einer systematischen Schwangerenvorsorge zu beschäftigen – wobei er die Fürsorge durch Hebammen und Gynäkolog*innen zusammen dachte. 1952 wurde in der ehemaligen DDR und 1965 in der BRD die Schwangerenvorsorge von den Krankenkassen in ihren Katalog mit aufgenommen – als Teil der sogenannten Mutterschaftsrichtlinien. Damit lag die primäre Versorgung von Schwangeren nun in der Hand von Ärzt*innen. Das Augenmerk lag vor allem auf der Gesundheit der Schwangeren. 1979 war die Ultraschalltechnik so weit entwickelt, dass jede Schwangere eine solche Untersuchung bekommen konnte – auch sie wurde in die Mutterschaftsrichtlinien aufgenommen. Damit habe sich der Fokus zum ersten Mal auf das ungeborene Kind gerichtet, so der Geburtsmediziner Prof. Dr. Ekkehard Schleußner. Er praktiziert seit Ende der 80er Jahre an der Uniklinik in Jena und leitet dort die Geburtsmedizin: „Das Bemerkenswerte hier war aber erstmal die Visualisierung des Kindes. Damit gab es ein Bild von dem, was vorher unsichtbar geblieben ist.” Für die Hebamme und Kulturwissenschaftlerin Dr. Angelica Ensel, von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, konnte diese Sichtbarmachung die elterliche Bindung zu ihrem ungeborenen Kind stärken: „Es war aber gleichzeitig auch der Beginn der Vermessung des Kindes”, fügt sie an.

„Die meisten Befunde konnten schon damals und können auch heute therapiert werden.“

Prof. Dr. Ekkehard Schleußner, Leiter der Geburtsmedizin an der Uniklinik Jena

Zu Beginn diente der Ultraschall vor allem dazu, Mehrlingsgeburten festzustellen oder anhand der Größe des Embryos den Geburtstermin besser zu berechnen. Doch auch damals galt laut Schleußner schon: „Pränataldiagnostik rettet Leben!”. Während sich zuvor eine Mehrlingsschwangerschaft häufig erst bei der Geburt offenbarte, konnten nun die Geburt und die Nachsorge optimal vorbereitet werden. Mit der Zeit wurde die Ultraschalltechnik immer feiner. 1995 wurde das sogenannte Dreipunktscreening in Deutschland eingeführt, womit sich „die Ziele des Schwangerenultraschalls in Richtung der Fehlbildungsdiagnostik” verschoben hatten, wie die Gynäkologen Prof. Dr. Christoph Brezinka und Prof. Dr. Horst Steiner in ihrem Standardwerk zur Ultraschalluntersuchung schreiben. „Die meisten Befunde konnten schon damals und können auch heute therapiert werden”, betont Schleußner: „Etwa Babys mit einer offenen Bauchdecke haben heute eine sehr hohe Überlebenschance. Ohne Pränataldiagnostik wären sie gestorben.”

Das sieht bei der genetischen Pränataldiagnostik anders aus. Die trieben in den 60er und 70er-Jahren hauptsächlich Humangenetiker*innen voran. Die genetische Pränataldiagnostik ermöglicht es, aus Fruchtwasser, der Plazenta oder dem Nabelschnurblut das Erbmaterial zu analysieren. Während es zu Beginn ein „reines Chromosomenzählen” war, so der Geburtsmediziner Ekkehard Schleußner, wurde es durch die schrittweise Entschlüsselung des Genoms auch möglich, Mutationen zu erkennen: „Diese rasante Entwicklung der vergangenen 15 Jahre ist unglaublich faszinierend”, findet er. Heute gehöre bei jedem auffälligen Befund in einer Ultraschalluntersuchung eine anschließende molekulargenetische Untersuchung dazu. Er schätzt, dass etwa jeder Fünfte der schwerwiegend auffälligen Befunde zu einem Schwangerschaftsabbruch führen.

„Heute müssen Frauen von Anfang an viele Entscheidungen treffen und die Schwangerschaft managen.“

Dr. Angelica Ensel, Hebamme und Kulturwissenschaftlerin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg

Die Auseinandersetzung mit Krankheit

Für die Hebamme Angelica Ensel zeigt die Entwicklung der Schwangerenvorsorge einen großen Trend: Pränataldiagnostische Untersuchungen wurden zunächst für Schwangere mit bestimmten Indikationen empfohlen, wie etwa Frauen mit einem sogenannten „Altersrisiko“ für ein Kind mit einer Behinderung. Sukzessive wurden die Untersuchungen dann allen Schwangeren angeboten, wobei eine Reihe von Untersuchungen als Individuelle Gesundheitsleistungen selbst bezahlt werden müssen. So seien vorgeburtliche genetische Untersuchungen  zur Normalität geworden und haben den „Auftrag für die Schwangere” verändert: „In früheren Zeiten verwies die Bezeichnung der Schwangerschaft als „Zeit der guten Hoffnung“ darauf, dass es vor allem darum geht, zuzulassen, was im eigenen Körper geschieht und mit dem Kind in Verbindung zu sein. Heute müssen Frauen von Anfang an viele Entscheidungen treffen und die Schwangerschaft managen”, kritisiert Ensel.

Das sogenannte Ersttrimesterscreening – bei dem etwa nach Anzeichen für ein Down-Syndrom beim Embryo gesucht wird – führen Ärzt*innen zwischen der 12. und 14. Schwangerschaftswoche durch. Die Paare müssen sich spätestens bei der zweiten gynäkologischen Untersuchung damit auseinandersetzen, ob sie das Screening machen wollen. Die Verantwortung für ein gesundes Kind würde den Eltern zugeschoben – für die sei die „Entscheidungsmöglichkeit” häufig auch eine „Entscheidungslast”: „Statt der Auseinandersetzung mit den anstehenden großen Veränderungen, die immer mit der Geburt eines Kindes verbunden sind, ist nun die Auseinandersetzung mit einer möglichen Behinderung oder Erkrankung des Kindes im Fokus und verengt den Blick”, so Ensel. Viele Eltern würden sich dann für das Screening entscheiden, mit dem Wunsch beruhigt zu sein – das Bewusstsein dafür, was diese Untersuchungen nach sich ziehen können, fehle häufig.

Primäre Schwangerenvorsorge durch Hebammen?

Angelica Ensel sieht das Problem in der historisch gewachsenen Verschiebung der Schwangerenversorgung weg von den Hebammen hin zu den Ärzt*innen. Pränatale Diagnostik habe viele Dimensionen, sie könne wichtige Maßnahmen einleiten oder die Eltern beruhigen, aber auch die Schwangere nachhaltig und über Monate verunsichern. Unabdingbare Voraussetzung für jede Pränataldiagnostik sei daher eine informierte Entscheidung der Eltern, die eine „unabhängige und ausführliche” Beratung erfordere. Während Ärzt*innen vor allem eine pathologische Sicht auf die Schwangerschaft hätten, würden Hebammen den Blick auf die Physiologie richten. Deshalb fordert sie, die Schwangerenvorsorge für die gesunde Schwangere den Hebammen zu überlassen – auch der Basisultraschall könne bei entsprechender Ausbildung von den Hebammen durchgeführt werden, wie es etwa in den Niederlanden üblich ist. Dort leiten die Hebamme die Frau bei einer Auffälligkeit weiter an Fachärzt*innen. Von diesem Zeitpunkt an betreuen beide Professionen die Schwangere. „Wir brauchen eine Begleitung, die die Schwangerschaft zuallererst als einen gesunden Prozess sieht und die der Schwangeren hilft, bei sich zu sein und in ihre Kraft zu kommen”, sagt Angelica Ensel. Vielleicht könnte so beides möglich sein: Eine selbstbestimmte Schwangerschaft, die die Schwangeren stärkt, und eine gute medizinische Versorgung vor, während und nach der Geburt.