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„Das Leben mit Behinderung wird als ein Risiko beschrieben.“

Ein Gespräch mit der Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Constanze Spieß

Sie schauen sich in Ihrer Forschung die Sprache in Debatten zu bioethischen Themen an. Wie gehen Sie dabei vor und welche Themen standen bisher im Fokus?

Ich habe mir vor allem drei Diskurse angeschaut: Die Debatte um die humane embryonale Stammzellforschung, die um Präimplantationsdiagnostik und die um genetische Bluttests – also nicht invasive Pränataltests (NIPT). Ich untersuche sowohl den Sprachgebrauch der Reden im Bundestag als auch die in den Medien geführte Debatte darüber. In erster Linie geht es mir darum, zentrale Argumentationsmuster, Schlüsselwörter und Metaphern herauszufinden und danach zu schauen, welche Positionen mit dem je spezifischen Sprachgebrauch verbunden sind. 

Was haben Sie herausgefunden?

Die verschiedenen Diskurse sind sehr eng miteinander vernetzt. Es geht letztlich immer um Grundfragen des menschlichen Daseins: Wann beginnt menschliches Leben? Was ist Menschenwürde und wie wird sie vor allem definiert? Welches Leben ist lebenswert? Diese Fragen ziehen sich eigentlich seit den Debatten um den § 218 in der Weimarer Zeit und später dann in den 90er Jahren bis heute durch die verschiedenen bioethischen Diskurse. Auch die Argumentationsmuster sind ähnlich. Die Argumente pro und contra werden also auch immer wieder aufgegriffen – egal, ob es um Präimplantationsdiagnostik oder NIPT geht.

„Die Sprache lässt Rückschlüsse auf die Perspektive des Sprechenden zu – also beispielsweise auf seine Vorstellung vom Menschsein.“

Welches Menschenbild wird in diesen Diskursen über die Sprache transportiert?

Die Sprache lässt Rückschlüsse auf die Perspektive des Sprechenden zu – also beispielsweise auf seine Vorstellung vom Menschsein. Ein Beispiel hierfür ist die Bezeichnung für die befruchtete Eizelle in dieser Debatte. Die Befürworter*innen der Tests vermeiden es, sie mit menschlichen Attributen zu versehen und versuchen möglichst Ausdrücke wie etwa „Zellmaterial“ oder „Zygote“ dafür zu verwenden. Die Gegner*innen des Tests sprechen dagegen vom „menschlichen Leben“ oder von „dem Baby“. Diese Ausdrucksweisen verweisen auf die unterschiedlichen Auffassungen davon, wann menschliches Leben beginnt und damit auf die verschiedenen Vorstellungen vom Menschsein.

Wie sehr prägt die Verwendung solcher Begriffe wiederum das öffentliche Bild einer neuen medizinischen Anwendung?

Das wollen wir uns in einem aktuellen Forschungsprojekt über einen langen Zeitraum hinweg anschauen. Wir untersuchen verschiedene bioethische Diskurse von 1990 bis heute und wir wollen auch hier Argumentationsmuster, zentrale Schlüsselwörter und Metaphern analysieren und herausfinden, wie diese miteinander vernetzt sind. Dazu schauen wir uns in einem ersten Schritt in den entsprechenden Bundestagsdebatten an, welche Wörter besonders signifikant und besonders relevant sind und erstellen daraus Schlüsselwortlisten. Danach schauen wir, in welchen Medien, von welchen Akteur*innen und in welchen Kontexten diese Schlüsselwörter verwendet werden und welche kommunikativen Zwecke damit verbunden sind.

„Es ist etwa zu beobachten, insbesondere für die Debatten um Präimplantationsdiagnostik oder  vorgeburtliche genetische Bluttests – dass stark dehumanisierende Ausdrücke wie z.B. die Verben ‚verwerfen‘, ‚selektieren‘ oder ‚aussortieren‘ den Befürworter*innen der Präimplantationsdiagnostik und der pränatalen Bluttests zugeschrieben werden.“

Was erhoffen Sie sich von diesem Forschungsprojekt?

Eine Untersuchung des Sprachgebrauchs in den genannten bioethischen Debatten über einen längeren Zeitraum ist bislang noch nicht gemacht worden. Wir vermuten, dass bestimmte Argumentationsmuster diskursübergreifend verwendet werden, aber auch, dass Bedeutungen diskursspezifisch ausgehandelt werden und damit auch Veränderungen von Bedeutungen verbunden sind. 

Ein weiteres Ziel ist auch ein aufklärerisches: Wir wollen über den Sprachgebrauch aufklären: Wo wird tabuisiert, welche Sachverhalte werden euphemisiert? Und welche Akteur*innen verwenden welche Ausdrucksmittel? Welche Perspektive ist mit welchem Sprachgebrauch verbunden? Welche Perspektive ist dominant und prägt deshalb den öffentlichen Diskurs am stärksten? Interessant ist dabei, wie strategisch Sprache von bestimmten Gruppen eingesetzt wird: Es ist etwa zu beobachten, insbesondere für die Debatten um Präimplantationsdiagnostik oder  vorgeburtliche genetische Bluttests – dass stark dehumanisierende Ausdrücke wie z.B. die Verben ‚verwerfen‘, ‚selektieren‘ oder ‚aussortieren‘ den Befürworter*innen der Präimplantationsdiagnostik und der pränatalen Bluttests zugeschrieben werden. Indem etwa jemand im Bundestag sagt: „Das ist kein Zellhaufen. Solche Tests müssen verboten bleiben“, wirft die redende Person den Befürworter*innen implizit vor, den Embryo als „Zellhaufen“ zu konzeptualisieren und nicht als Mensch.

„So wird das Leben mit einem Kind mit Behinderung als ein Risiko beschrieben – und nicht als ein Leben, was einfach anders ist und andere Qualitäten haben kann.“

Wie verändert die Sprache, die wir rund um Pränataldiagnostik verwenden, unser Bild von Menschen mit Behinderung?

Menschen mit Behinderung kommen im Diskurs zu Wort, sind aber nicht die Hauptakteur*innen. Eine Schwangerschaft bei einer Frau über 35 wird als „Risikoschwangerschaft“ bezeichnet. Und es wird vermittelt, dass man diesem Risiko begegnen kann, wenn man Pränataldiagnostik durchführen lässt. So wird das Leben mit einem Kind mit Behinderung als ein Risiko beschrieben – und nicht als ein Leben, was einfach anders ist und andere Qualitäten haben kann. Begrifflich wird es als ein Leben aufgefasst, was verbunden ist mit Gefahren. Nicht selten wird auch das „Leid“ der Frauen oder der Familien hervorgehoben, das beispielsweise durch ein Kind mit Trisomie oder einer Erbkrankheit hervorgerufen wird und was durch Pränataldiagnostik verhindert werden soll oder werden kann Da lauten die Argumente oft: „Erbkrankheiten und Chromosomenaberrationen verursachen Leid“. Dieses Urteil ist sehr pauschal und stellt das Leben mit einer Behinderung als leidvoll dar. Es folgt zudem der Schluss, dass Pränataldiagnostik solche Anomalitäten erkennen kann. Allerdings wird verschwiegen, dass es für beispielsweise erkannte Chromosomenaberrationen keine Therapie gibt. Die Verhinderung von Leid bezieht sich dann auf die Vermeidung von Behinderungen, also auf eine Abtreibung des Embryos. Die Thematisierung dessen wird im Diskurs aber verschwiegen, also tabuisiert. 

Sie haben in einer Forschungsarbeit herausgearbeitet, dass in politischen Debatten zu strittigen bioethischen Fragen die Argumentation unter anderem mit persönlichen Erzählungen unterstützt wird. Wie erklären Sie sich das?

Das Erzählen von persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen kann als ein Brückenelement aufgefasst werden, das Abstraktes konkretisiert. Eine Diskussion um lebenswertes Leben oder den Beginn menschlichen Lebens ist etwas sehr Abstraktes, was wir durch das Erzählen persönlicher Erfahrungen oder Erlebnisse greifbar machen können. In der Debatte um die genetischen Bluttests war das sehr auffällig. Das Erzählen einer Geschichte dient hier als Argument. Im Kontext der vorgeburtlichen genetischen Bluttests erzählen die Abgeordneten in ihren Reden etwa von eigenen Erfahrungen mit Kindern mit Behinderung. Ich vermute, dass diese Argumentationsmuster vor allem dann eingesetzt werden, wenn es um existentielle Fragen des menschlichen Lebens geht. Das müsste aber einmal in einer vergleichenden Arbeit diksursübergreifend genauer untersucht werden.

„Es ist bei Ärzt*innen beispielsweise wichtig, dass sie nicht vom ‚Ergebnis‘, sondern von einer ‚Wahrscheinlichkeit für …‘ sprechen, wenn es um den nicht invasiven Pränataltest geht.“

Wie würden Sie sich einen gelungenen Diskurs zu Pränataldiagnostik vorstellen? Worauf sollten wir sprachlich achten?

Ein gelungener Diskurs ist erstmal einer, an dem möglichst viele unterschiedliche Akteur*innen mit verschiedenen Positionen teilhaben und die Auseinandersetzung nicht diffamierend oder diskriminierend verläuft. Bei der Frage um Pränataldiagnostik ist das sehr schwierig, weil das immer mit grundsätzlichen Vorstellungen vom guten Leben zu tun hat. Dadurch begibt man sich immer gleich in eine Position. Abgesehen davon halte ich es aber immer für wichtig, transparent zu bleiben, die eigenen Motive und Fakten zu nennen. Es ist bei Ärzt*innen also beispielsweise wichtig, dass sie nicht vom „Ergebnis“, sondern von einer „Wahrscheinlichkeit für …“ sprechen, wenn es um den nicht invasiven Pränataltest geht. Das fängt schon bei der Kommunikation in der gynäkologischen Praxis an, wenn der Test eingeführt wird mit: „Wir gucken, ob ihr Kind gesund ist“. Dabei gibt der Test keine Garantie für ein gesundes Kind, sondern er gibt eine Wahrscheinlichkeit an, ob das Kind womöglich eine Chromosomenaberration aufweist oder nicht. Verschwiegen wird beispielsweise, dass bei positiver Testung, weitere Tests erfolgen müssen, um genauere Aussagen machen zu können. Hier müsste ein sensibler Sprachgebrauch ansetzen, denn durch vage Kommunikation wird eine falsche Sicherheit suggeriert.

Wie bewerten Sie den öffentlichen und politischen Diskurs, um die Kostenübernahme von NIPT der öffentlichen Krankenkassen?

Interessant ist, dass es in der Bundestagsdebatte um die Aufnahme von NIPT in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gleich um grundsätzliche Fragen des menschlichen Lebens ging.  Daneben wurde natürlich auch diskutiert, dass es einen gerechten Zugang für alle versicherten Frauen zu dieser Leistung geben müsse. Dennoch war in der Bundestagsdebatte und im öffentlichen Diskurs die Frage zentral, welches Leben lebenswert ist und ob wir diese Tests überhaupt wollen bzw. ob es für die Gesellschaft gut ist, solche Tests zuzulassen. Das hätte meiner Meinung nach schon viel früher, etwa 2012 bei der Markteinführung, prominenter diskutiert werden müssen.

 

Zur Person

Prof. Dr. Constanze Spieß ist Sprachwissenschaftlerin und Professorin am Institut für Germanistische Sprachwissenschaft an der Philipps-Universität in Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Diskurslinguistik, Sprache und Politik und Sprache in Bioethik und Medizin.

Portrait von Prof. Dr. Constanze Spieß