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Ich weiß, dass ich nichts weiß – per Recht

Über die ethische und juristische Sicht auf das Recht auf Nichtwissen in der genetischen Pränataldiagnostik

Wir alle streben nach Wissen – gerade in Situationen, in denen wir uns unsicher fühlen. Wir recherchieren, lassen uns untersuchen und lesen viel, um mehr über uns und unsere Umwelt zu erfahren. Das Wissen, das durch Pränataldiagnostik entstehen kann, ist auf mehrfache Weise besonders: es ist unsicher und es kann über Erhalt oder Abbruch einer Schwangerschaft entscheiden. Das sogenannte Recht auf Nichtwissen soll sogar davor schützen.

Recht auf Nichtwissen bedeutet, bestimmte Untersuchungen bewusst nicht durchführen zu lassen, um die Ergebnisse nicht zu erfahren. Oder „das Untersuchungsergebnis oder Teile davon nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern vernichten zu lassen“ – so heißt in dem seit dem 1. Februar 2010 gültigen Gendiagnostikgesetz

„Welches Leben soll mein Kind führen? Will ich das Kind austragen oder nicht? Das sind fundamentale Fragen, die nicht nur das Leben der Eltern, sondern auch das des Embryos betreffen.“

Dr. Joachim Boldt, stellvertretender Institutsdirektor am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Gendiagnostik zieht häufig keine Therapie nach sich, weil eine Behandlung vieler gendiagnostisch festgestellter Besonderheiten nicht möglich ist. Um die Patient*innenautonomie in dieser Gemengelage zu schützen, wurde das Recht auf Nichtwissen in das Gesetz mit aufgenommen, so der Jurist Prof. Dr. Gunnar Duttge von der Georg-August-Universität in Göttingen. Er beschreibt es auch als „das Recht, sich selbst vor Wissen zu verschonen“. Der Philosoph Dr. Joachim Boldt vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin in Freiburg bezeichnet es als „Selbstschutz in dieser besonderen Situation vor dem eigenen Bedürfnis nach Wissen und Aufklärung.“

Das Gendiagnostikgesetz umfasst auch Regelungen zu vorgeburtlichen genetischen Untersuchungen beispielsweise des Fruchtwassers, der Plazenta, des Nabelschnurblutes oder des Bluts der Mutter. Die Besonderheit ist hier: Das Wissen, das bei der Pränataldiagnostik entstehen kann, betrifft auch den Embryo. Und wirft damit auch andere Fragen auf, so Joachim Boldt: „Welches Leben soll mein Kind führen? Will ich das Kind austragen oder nicht? Das sind fundamentale Fragen, die nicht nur das Leben der Eltern, sondern auch das des Embryos betreffen.“ Denn auf das Wissen, das Pränataldiagnostik bringt, folgt in der Regel die Entscheidung zwischen Abbruch oder Austragen einer Schwangerschaft. „Das Kind zahlt hier quasi den Preis für die informationelle Neugier seiner Eltern“, sagt Gunnar Duttge und fügt an: „Man muss sich fragen: Ist die Pränataldiagnostik nicht ein Instrument, um zu selektieren?“

„Das Recht auf Nichtwissen wird in der Pränataldiagnostik mutmaßlich massenhaft missachtet.“

Prof. Dr. Gunnar Duttge, Leiter der Abteilung für strafrechtliches Medizin- und Biorecht an der Georg-August-Universität Göttingen

Um der Tragweite dieses Problems gerecht zu werden, soll vor jeder Pränataldiagnostik eine umfassende Aufklärung über die Art der Untersuchung, das dabei entstehende Wissen und dessen Bedeutung erfolgen – und auch auf das Recht auf Nichtwissen verwiesen werden. So heißt es in den Mutterschafts-Richtlinien vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA): „Insbesondere ist das Recht auf Nichtwissen jederzeit zu betonen.“ Soweit die Theorie. In der Realität sieht das häufig anders aus. Duttge: „Da heißt es: ‚Wir wollen ja nur mal abklären, ob das Kind gesund ist.‘“ Ob aus Zeitmangel oder weil Ärzt*innen sich unter Druck gesetzt fühlen, die Schwangeren möglichst genau zu untersuchen: Die Aufklärung komme häufig zu kurz. „Das Recht auf Nichtwissen wird in der Pränataldiagnostik mutmaßlich massenhaft missachtet“, sagt Duttge. Ginge es nach ihm, würde das Recht auf Nichtwissen als ein Modul in der Aus- und Fortbildung fest verankert.

Auch Boldt fordert ein bessere Aufklärung, denn bei Pränataldiagnostik – gerade bei den sogenannten nicht invasiven Pränataltests – entstehe ein sehr unsicheres Wissen. Die Wahrscheinlichkeit für falsch-positive oder falsch-negative Ergebnisse ist vor allem bei jungen Frauen hoch. Und selbst eine sichere Diagnose sagt etwa bei Trisomie 21 noch nichts über den Grad der Behinderung aus: „Was macht man mit einer Aussage, die unter so vielen Vorbehalten steht? Viele handeln hier trotzdem nach dem Imperativ der Risikovermeidung – und das bedeutet in diesem Kontext einen Schwangerschaftsabbruch.“

„Für mich ist klar: Paare, die sich für eine Abtreibung entscheiden, diskriminieren nicht. Aber wir, als Rechtsgemeinschaft, dürfen das eigentlich nicht erlauben.“

Prof. Dr. Gunnar Duttge, Leiter der Abteilung für strafrechtliches Medizin- und Biorecht an der Georg-August-Universität Göttingen

In Zahlen heißt das: Etwa 70 bis 90 Prozent der Frauen brechen nach der Diagnose Down-Syndrom die Schwangerschaft ab. „Damit hat dieses Wissen auch eine gesamtgesellschaftliche Implikation. Denn es scheint als Schaden angesehen zu werden, ein Kind mit einer Behinderung zu bekommen“, sagt der Philosoph Boldt. Gunnar Duttge geht noch einen Schritt weiter: „Wenn wir es tolerieren, dass solche Tests immer mehr zum Standard werden, ist das eine gesellschaftliche Wertentscheidung: Wir finden das Leben mit Behinderung nicht lebenswert.“ 

Gerade bei Pränataldiagnostik- und tests, die von der Krankenkasse bezahlt werden – und die damit „die Solidargemeinschaft finanziert“, so Duttge – müsste sich das, was daraus folgt, auch mit den Grundwerten unserer Gesellschaft decken. Er sieht hier einen „fundamentalen Wertewiderspruch“ zum Recht auf Menschenwürde und Gleichstellung und den Schutz vor Diskriminierung: „Für mich ist klar: Paare, die sich für eine Abtreibung entscheiden, diskriminieren nicht. Aber wir, als Rechtsgemeinschaft, dürfen das eigentlich nicht erlauben.“

„Es hilft nicht, an dieser Stelle [durch Kosten, Anm. d. Red.] Hürden aufzubauen, um uns vor ethisch schwierigen Situationen zu schützen.“

Dr. Joachim Boldt, stellvertretender Institutsdirektor am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses, dass die Krankenkassen den nicht invasiven Pränataltest seit dem 1. Juli 2022 in manchen Fällen übernehmen, sieht er deshalb auch kritisch. Rechtlich tragbar wäre eine solche Regelung nur dann, wenn es kein Diskriminierungsproblem gebe und die Menschenrechte die Gleichstellung beispielsweise von Menschen mit Downsyndrom geschützt seien. Das niedrigschwellige Verfügbarmachen dieses Wissens bedeutet laut Duttge aber: „Diese Rechte gelten bei uns für ungeborenes Leben nicht.“ 

Boldt hingegen hält die Entscheidung des G-BA für „schlüssig und richtig“: „Es hilft nicht, an dieser Stelle Hürden aufzubauen, um uns vor ethisch schwierigen Situationen zu schützen.“ Der Umgang mit Menschen mit Behinderung müsse auf einer ganz anderen Ebene verhandelt werden: „Wie kommt es, dass ein Leben mit Behinderung uns unlebbar vorkommt?“ Boldt wünscht sich eine Umgebung für Eltern, in der sie ein Kind mit Behinderung verantwortungsvoll auf die Welt bringen – gerade weil sie es vorher wussten.

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