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„Ein diffuses Heilsversprechen“

Über Vorteile, Einschränkungen und ethische Implikationen für die Zukunft von Pränataltests

Möglich, aber auch sinnvoll? Unternehmen drängen mit einer wachsenden Anzahl nicht-invasiver Pränataltests (NIPT) auf den Markt. Ihre Zielgruppe sind Eltern, die sich zunehmend Gewissheit während der Schwangerschaft wünschen. Der Humangenetiker Dr. rer nat Gregor Schlüter sieht diese Entwicklung kritisch. „Es werden deutlich mehr Bluttests in Anspruch genommen als früher“, sagt der Leiter des humangenetischen Labors und Facharzt für Humangenetik am MVZ Pränatalmedizin, Gynäkologie und Genetik in Nürnberg. Der Fokus der dort tätigen Gynäkolog*innen und Humangentiker*innen liegt im Bereich der Pränataldiagnostik. Sie beraten Schwangere unter anderem im Umgang mit NIPT-Angeboten und Testergebnissen.

„Es werden deutlich mehr Bluttests in Anspruch genommen als früher“

Dr. rer nat Gregor Schlüter, Leiter des humangenetischen Labors und Facharzt für Humangenetik am MVZ Pränatalmedizin, Gynäkologie und Genetik in Nürnberg

Das Sicherheitsbedürfnis auch junger Frauen in der Schwangerschaft wächst, die Ansprüche an die Diagnostik ebenfalls, sagt der Humangenetiker. Selbstzahler können die DNA ihres Embryos zum Beispiel auch auf spinale Muskelatrophie (eine angeborene Muskelschwäche), Beta-Thalassämie, (eine genetisch bedingte Blutarmut) sowie auf Mukoviszidose untersuchen lassen. Noch ist dies keine Routine. Doch die Nachfrage nach diesen IGel-Leistungen nimmt zu, manche Praxen bewerben sie offensiv. Viele Frauen sind bereit, dafür die Kosten von einigen Hundert Euro zu tragen. Ob die Tests zuverlässig oder gar sinnvoll sind, steht auf einem anderen Blatt.

In den USA können Föten auf fast jede genetisch bedingte Krankheit getestet werden

„Theoretisch können Sie sich und ihren Fötus bereits auf fast jede genetisch bedingte Krankheit testen lassen“, sagt Gregor Schlüter. Das wird in manchen Ländern wie zum Beispiel den USA für zahlungskräftige Kunden bereits angeboten, ist in Europa aber noch kaum ein Thema. Noch nicht. Die Erfahrung des Humangenetikers: Was möglich ist und beworben wird, findet Interessent*innen. Schlüter hält es für denkbar, dass sich mittelfristig Tests zum Beispiel auf die zehn häufigsten Erkrankungen durchsetzen, weil sie das Sicherheitsbedürfnis der Schwangeren bedienen.

Im Fall des Trisomie 21-Tests steht dessen Aussagekraft für Risikogruppen, in diesem Fall Spätgebärende, außer Frage. „Die Sensitivität der Bluttests auf Trisomie-21 ist sehr gut“, so der Humangenetiker. Sie spüren die genetische Abweichung also zuverlässig auf. „Die Frage, ob diese Abweichung tatsächlich zum Down-Syndrom beim Kind führt, hängt jedoch von der Prävalenz der Erkrankung, also deren Verbreitung in unterschiedlichen Altersgruppen ab. Bei über 40-jährigen Frauen beträgt die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Down-Syndrom zu gebären, rund ein Prozent. In ihrer Altersgruppe sagt der Test die Erkrankung mit 93 Prozent sehr zuverlässig voraus. Anders für 20-jährige Schwangere, bei denen das Risiko für ein Kind mit Trisomie 21 bei nur 0,05 Prozent liegt. In dieser Gruppe entwickle nur die Hälfte der positiv getesteten Embryos tatsächlich das Down Syndrom. 

Je seltener eine Chromosomenabweichung, desto geringer die Vorhersagekraft eines Tests

„Der positive Vorhersagewert hängt daran, wie häufig das ist, wonach man sucht“, erklärt dies der Humangenetiker Prof. Dr. Christian Netzer von der Uniklinik Köln auf einer Veranstaltung des Ethikrates. Was umgekehrt bedeutet: Je seltener eine Chromosomenabweichung, desto geringer die Vorhersagekraft eines Tests. Oder auch: Seltene Krankheiten lassen sich nur sehr unzuverlässig in der DNA des werdenden Kindes bestimmen. Das hält viele nicht davon ab, sich auf verschiedene, auch seltene Gendefekte testen zu lassen. 

Mittlerweile lassen sich auch sogenannte Mikrodeletionen, kleine strukturelle Veränderungen der DNA, durch Bluttests nachweisen. Humangenetiker Schlüter beurteilt sie sehr skeptisch. „Wenn eine Mikrodeletion vorhanden ist, findet man sie. Aber es gibt eine hohe Rate von falsch positiven Tests. Die Chance, dass sich die Vorhersage bestätigt, liegt bei bestenfalls zehn Prozent.“ Der Nutzen ist also sehr zweifelhaft – was die Firmen nicht davon abhält, sie massiv zu bewerben. Gregor Schlüter rät von diesen Testoptionen eher ab, da sie weit überwiegend unnötige Verunsicherung produzieren. Umgekehrt bietet ein unauffälliger Test den werdenden Eltern nur eine trügerische Sicherheit. „Viele Erkrankungen beruhen auf Neumutationen, die kein Test erfasst.“ Den Humangenetiker beunruhigt zudem die Tendenz, dass Gentests von vielen Patientinnen als Ersatz für die klassische pränatale Diagnostik wie den Ultraschall angesehen werden. Doch das sei ein Trugschluss. Der Ultraschall könne früh Unregelmäßigkeiten aufdecken, die von Gentests nicht erfasst werden.  

Geraten Frauen in einen Diagnostikstrudel?

Auch die Medizinethikerin PD Dr. Dagmar Schmitz vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Uniklinik RWTH Aachen sieht den Boom der NIPT-Leistungen kritisch. „Wir haben gesehen, dass die Ausweitung der NIPT-Verfahren extrem schnell von den Laboren zu den Praxen zu den Schwangeren gelangt ist.“ Ihre Forderung: Frauenärzt*innen müssten deutlicher machen, welche Testverfahren medizinisch begründbar sind und welche nicht.

Die Wissenschaftlerin fürchtet, dass Frauen in eine Art Diagnostikstrudel hineingeraten. „Haben sie die Möglichkeit zu entscheiden? Wissen sie, was auf sie zukommt? Und unterstützen wir die Schwangeren genug, informierte Entscheidungen zu treffen?“ gibt sie zu bedenken. Gregor Schlüter weiß aus seiner Erfahrung von den Informationsdefiziten bei vielen Schwangeren. „Manche meiner Patientinnen, die von außerhalb mit einem Ergebnis zu uns kommen, wissen gar nicht, worauf sie eigentlich getestet worden sind. Ihnen wurde vermittelt: Wir machen jetzt einen Test, damit Sie wissen, dass das Kind gesund ist. Aber das ist ein diffuses Heilsversprechen.“ Dabei schreibt das Gendiagnostikgesetz eine Beratung rund um Gentests zwingend vor. Je komplexer die Blutanalysen sind, desto anspruchsvoller und zeitaufwändiger müsste diese Beratung sein. Doch Zeit ist in vielen Praxen Mangelware.

Wie gehen Frauen und Paare mit dem Wissen über eine Chromosomenabweichung um? Zur genauen Abklärung ist eine invasive Untersuchung wie eine  Fruchtwasseruntersuchung vonnöten, mit der sich Veränderungen im Erbgut des Kindes zuverlässiger analysieren lassen als durch das Blut der Mutter. Das Problem: NIPT-Verfahren können bereits in der 10. Woche durchgeführt werden. Eine Fruchtwasseruntersuchung ist jedoch erst zwischen der 14. und 18. Woche möglich. Für einen Schwangerschaftsabbruch innerhalb der Beratungsregelung ist dies zu spät. „Die Pränataldiagnostiker schätzen, dass ein beträchtlicher Teil dieser Frauen die Fruchtwasseruntersuchung nicht abwartet, sondern direkt über die Beratungsregelung einen Abbruch vornehmen lässt. Wie groß dieser Anteil ist, darüber haben wir keine Zahlen“, sagt Dagmar Schmitz. Es ist ein Graubereich.

„Wenn über NIPT ganze Batterien von Tests durchgeführt werden, gewinnt man immer mehr Wissen über den zukünftigen Menschen, über das er eigentlich selbst verfügen sollte.“

PD Dr. Dagmar Schmitz, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Uniklinik RWTH Aachen

Sie weist auf einen weiteren Punkt hin: Wer hat die Hoheit über die genetischen Informationen des Feten? Wie steht um das Selbstbestimmungsrecht des künftigen Kindes?  „Wenn über NIPT ganze Batterien von Tests durchgeführt werden, gewinnt man immer mehr Wissen über den zukünftigen Menschen, über das er eigentlich selbst verfügen sollte. Zudem gibt es ein Recht auf Nichtwissen. Wie wird dies gehandhabt, wenn die Schwangere und nicht der eigentlich Betroffene die Analyse seines Erbguts veranlasst hat? „Es fehlt ein umfassendes normatives Fundament, das auch die Rechte des zukünftigen Kindes berücksichtigt“, sagt die Medizinethikerin. Dies könnte eines Tages mit seiner kompletten Genanalyse konfrontiert werden, ohne je in diese eingewilligt zu haben. Im Bereich der Pränataldiagnostik stellen sich auch in Zukunft zahlreiche Fragen, die weit über das medizinisch Machbare hinausgehen.

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