Ihre neueste Studie befasst sich mit den grundlegenden Einstellungen von Wähler*innen. Welche Aspekte sind ihnen wichtig, wenn sie entscheiden, für wen sie ihre Stimme abgeben?
Es gibt in der Wahlforschung ein festes theoretisches Modell, das besagt, es gibt die aktuelleren Fragestellungen, die die Positionen und Kandidat*innen betreffen, und es gibt eine langfristige Bindung an eine Partei – das ist Parteiorientierung oder Parteiidentifikation – die das Wahlverhalten beeinflusst. Wir sehen, dass vor allen Dingen bei Landtagswahlen der Amtsinhaber oder die Amtsinhaberin einen starken Amtsbonus hat, der für die Wahlentscheidung prägend ist. Bei der Bundestagswahl haben wir diesen Amtsbonus dieses Jahr nicht mehr, weil die amtierende Bundeskanzlerin nicht erneut kandidiert. Wir merken natürlich, dass auch die politischen Themen eine extrem große Rolle spielen. In unserer Studie haben wir drei politische Themenfelder, die ein klassisches Spektrum abdecken, abgefragt: Mehr sozialstaatliche Leistungen versus weniger Steuern, mehr Klimaschutz versus mehr Wachstum und mehr Zuwanderung versus weniger. Das sind Aspekte, die die Wähler*innenschaft grundlegend dimensionieren, unabhängig von aktuellen Entwicklungen, wie zum Beispiel der Bewertung der Pandemie oder anderen Fragestellungen.
Wie wirkt sich die Parteiidentifikation heutzutage auf das Wahlverhalten aus?
Wir haben eine schleichende Abnahme der Parteiidentifikation, also der langfristigen Bindung an eine Partei. Was wir festgestellt haben, ist das Gegenteil davon, nämlich die Wechselbereitschaft. Hier zeigt sich, dass unter den Teilnehmenden an der Sonntagsfrage – der Frage „Was würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?“ – drei Viertel über Lagergrenzen hinweg wechselbereit sind. Die einzige Anhänger*innenschaft mit einer sehr geringen Wechselbereitschaft ist die der AfD, von der sich knapp die Hälfte nicht vorstellen kann, eine andere Partei zu wählen. Das heißt, strukturell haben alle Parteien außer der AfD die gleichen Herausforderungen. Sie haben sowohl einen gewissen Sockel an Wähler*innen mit einer langfristigen Bindung oder Orientierung zu einer Partei, aber sie müssen ebenfalls ein riesiges Potenzial von sehr heterogenen Wechselwähler*innen adressieren.
Was bedeutet dies konkret beispielsweise für die kommende Bundestagswahl?
Die erste Konsequenz ist eine relativ naheliegende: Vorhersagen über Wahlen und Wahlausgänge verbieten sich, weil wir wissen, dass die Wähler sich sehr kurzfristig entscheiden. Es gibt sehr viele Wähler*innen, die zum Beispiel beides, Wirtschaftswachstum und Klimaschutz, für sehr wichtig halten. Dann entsteht eine Konfliktsituation. Sie müssen sich aber entscheiden, was sie höher bewerten und dann treffen sie im Moment der Stimmabgabe auf der Basis von vorher angesammelten Erfahrungen, Wissen, Kenntnissen, vielleicht auch historischen Überlegungen, die Entscheidung. Das ist ein bisschen wie eine Lotterie für die Parteien und das macht die Vorhersagbarkeit eines Wahlausgangs schlicht unmöglich.