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„Wir haben eine schleichende Abnahme der Parteiidentifikation“

Ein Gespräch mit Dr. Viola Neu

Dr. Neu, Sie sind Leiterin der Abteilung Wahl- und Sozialforschung der Konrad-Adenauer-Stiftung und forschen zu Wahlverhalten. Wie beeinflussen Merkmale wie das Alter, das Geschlecht oder die soziale Lebenslage das Wahlverhalten?

Unsere Forschungsergebnisse sind diesbezüglich weniger eindeutig, als Klischees über Wähler*innen glauben machen. Wir merken schon seit sehr langer Zeit, dass die Sozialstruktur – die gesellschaftliche Position nach demografischen Merkmalen – Wahlverhalten nur noch sehr schlecht erklärt und es tatsächlich Einstellungsmuster sind, die für die Wahlentscheidung entscheidend sind. In den 50er und 60er Jahren und bis in die 70er hinein, spielten Sozialstrukturen noch eine große Rolle, aber im Zuge des gesellschaftlichen Wandels nimmt die Bedeutung von Sozialstruktur ab. Auch die gesellschaftliche Mobilität, die Pluralisierung und die Individualisierung spielen eine Rolle. Fragen zur Sozialstruktur haben zwar Auswirkungen auf bestimmte Einstellungsmuster, vor allen Dingen was Zufriedenheiten angeht, allerdings keinen systematischen Einfluss auf das Wahlverhalten. Es gibt nur kleine sozialstrukturelle Unterschiede. Es gibt immer Parteien, die in bestimmten sozialen Gruppen etwas besser abschneiden, als in anderen. Wir sagen, dass jede Partei einen festen Sockel an Wähler*innen aus bestimmten sozialstrukturellen Gruppen hat, der manchmal etwas höher, manchmal etwas tiefer ist, aber einen systematischen Einfluss auf den Wahlausgang hat dieser Sockel nicht mehr.

„Wir sehen, dass vor allen Dingen bei Landtagswahlen der Amtsinhaber oder die Amtsinhaberin einen starken Amtsbonus hat, der für die Wahlentscheidung prägend ist.“

Ihre neueste Studie befasst sich mit den grundlegenden Einstellungen von Wähler*innen. Welche Aspekte sind ihnen wichtig, wenn sie entscheiden, für wen sie ihre Stimme abgeben?

Es gibt in der Wahlforschung ein festes theoretisches Modell, das besagt, es gibt die aktuelleren Fragestellungen, die die Positionen und Kandidat*innen betreffen, und es gibt eine langfristige Bindung an eine Partei – das ist Parteiorientierung oder Parteiidentifikation – die das Wahlverhalten beeinflusst. Wir sehen, dass vor allen Dingen bei Landtagswahlen der Amtsinhaber oder die Amtsinhaberin einen starken Amtsbonus hat, der für die Wahlentscheidung prägend ist. Bei der Bundestagswahl haben wir diesen Amtsbonus dieses Jahr nicht mehr, weil die amtierende Bundeskanzlerin nicht erneut kandidiert. Wir merken natürlich, dass auch die politischen Themen eine extrem große Rolle spielen. In unserer Studie haben wir drei politische Themenfelder, die ein klassisches Spektrum abdecken, abgefragt: Mehr sozialstaatliche Leistungen versus weniger Steuern, mehr Klimaschutz versus mehr Wachstum und mehr Zuwanderung versus weniger. Das sind Aspekte, die die Wähler*innenschaft grundlegend dimensionieren, unabhängig von aktuellen Entwicklungen, wie zum Beispiel der Bewertung der Pandemie oder anderen Fragestellungen.

Wie wirkt sich die Parteiidentifikation heutzutage auf das Wahlverhalten aus?

Wir haben eine schleichende Abnahme der Parteiidentifikation, also der langfristigen Bindung an eine Partei. Was wir festgestellt haben, ist das Gegenteil davon, nämlich die Wechselbereitschaft. Hier zeigt sich, dass unter den Teilnehmenden an der Sonntagsfrage – der Frage „Was würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?“ – drei Viertel über Lagergrenzen hinweg wechselbereit sind. Die einzige Anhänger*innenschaft mit einer sehr geringen Wechselbereitschaft ist die der AfD, von der sich knapp die Hälfte nicht vorstellen kann, eine andere Partei zu wählen. Das heißt, strukturell haben alle Parteien außer der AfD die gleichen Herausforderungen. Sie haben sowohl einen gewissen Sockel an Wähler*innen mit einer langfristigen Bindung oder Orientierung zu einer Partei, aber sie müssen ebenfalls ein riesiges Potenzial von sehr heterogenen Wechselwähler*innen adressieren.

Was bedeutet dies konkret beispielsweise für die kommende Bundestagswahl?

Die erste Konsequenz ist eine relativ naheliegende: Vorhersagen über Wahlen und Wahlausgänge verbieten sich, weil wir wissen, dass die Wähler sich sehr kurzfristig entscheiden. Es gibt sehr viele Wähler*innen, die zum Beispiel beides, Wirtschaftswachstum und Klimaschutz, für sehr wichtig halten. Dann entsteht eine Konfliktsituation. Sie müssen sich aber entscheiden, was sie höher bewerten und dann treffen sie im Moment der Stimmabgabe auf der Basis von vorher angesammelten Erfahrungen, Wissen, Kenntnissen, vielleicht auch historischen Überlegungen, die Entscheidung. Das ist ein bisschen wie eine Lotterie für die Parteien und das macht die Vorhersagbarkeit eines Wahlausgangs schlicht unmöglich.

„Wir gehen davon aus, dass die parteipolitische Mobilität und das Wahlverhalten über Lagergrenzen sich fortsetzen.“

Welche Entwicklungen beim Wahlverhalten erwarten Sie für die Zukunft?

Wir gehen davon aus, dass die parteipolitische Mobilität und das Wahlverhalten über Lagergrenzen sich fortsetzen. Nennenswerte Teile der Anhänger*innenschaft aller Parteien, außer der AfD, sind sich verhältnismäßig ähnlich. Nur die Positionen der Anhänger*innen dieser einen Partei unterscheiden sich bei sämtlichen Themen von denen der anderen Wahlberechtigten. Die Entwicklung der Parteien und der Heterogenität der Wähler*innenschaft geht ziemlich parallel einher. Die Grünen beispielsweise haben eine Veränderung von dezidierter hin zu gemäßigter Politik hinter sich, die sich in ihrer heute vielfältigen Wähler*innenschaft widerspiegelt.

Positionen

Dr. Viola Neu ist Leiterin der Abteilung Wahl- und Sozialforschung und stellvertretende Leiterin der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer Stiftung.

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