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Wie Werte unser Wahlverhalten prägen

Warum der Wertewandel unser Parteiensystem verändert und was Krisen wie die Pandemie oder der Klimawandel mit unseren Wertvorstellungen machen.

Die einen streiken fürs Klima, die anderen sorgen sich um ihren Job, um ihr Einfamilienhaus oder um ihren alljährlichen Urlaub. Die einen wünschen sich mehr Diversität, kämpfen gegen Diskriminierung in der Sprache oder in der Arbeitswelt, andere gehen gegen Migration und „Multikulti” auf die Straße. Hinter all diesen politischen Einstellungen stecken ganz unterschiedliche Werte. Sind mir eine gesunde Umwelt, Gleichberechtigung und Solidarität wichtig? Oder wünsche ich mir materielle Sicherheit, Stabilität, Kontinuität? Wertvorstellungen leiten unsere politischen Einstellungen und unser Verhalten – und beeinflussen damit letztlich auch, wo wir am Wahltag unser Kreuzchen setzen. Grund genug, sich einmal genauer anzusehen, wie politische Wertvorstellungen entstehen und warum sie sich verändern.

Nach der Definition des US-amerikanischen Soziologen Clyde Kluckhohn ist ein Wert eine „Auffassung vom Wünschenswerten, (…) welche die Auswahl möglicher Wege, Mittel und Ziele des Handelns beeinflusst“. Politische Wertorientierungen beziehen sich dabei auf die Ziele des gesellschaftlichen Zusammenlebens, erklärt Prof. Dr. Oscar W. Gabriel, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart. Sie sind zu unterscheiden von politischen Einstellungen. Letztere beziehen sich auf konkrete Objekte oder Akteur*innen, also beispielsweise auf Kandidat*innen bei der Bundestagswahl oder auf spezifische politische Maßnahmen wie den Kohleausstieg, Steuererhöhungen für Wohlhabende oder die Einführung von Geschlechterquoten. Wertvorstellungen hingegen sind abstrakt und langfristig stabil. Sie seien jedoch wichtige Bestimmungsfaktoren von Einstellungen, erklärt Gabriel. „Wir bilden unsere politischen Einstellungen aufgrund unserer Wertvorstellungen.” Dabei spielen unsere Werte auch eine stabilisierende Rolle, so Gabriel. Sie verhindern also, dass sich unsere Einstellungen ständig ändern.

Die Wissenschaft geht davon aus, dass politische Wertorientierungen während der politischen Sozialisation im Kindes- und Jugendalter gebildet werden. Entsprechend spielen das Elternhaus, das soziale Umfeld und die Lebensumstände in dieser Zeit eine wichtige Rolle für die Herausbildung bestimmter Werte. Diese Wertvorstellungen bleiben dann im Laufe des Lebens relativ stabil – sind aber keineswegs unveränderlich.

Die Praxis zeigt, dass in Krisensituationen, insbesondere auch in Wirtschaftskrisen, materialistische Werte wieder stärker werden. Und das könnte jetzt beispielsweise für die Corona-Krise auch der Fall sein.”

Dr. Evelyn Bytzek, Universität Koblenz-Landau

Auf individueller Ebene können Brüche in der Biografie auch zu Brüchen mit den eigenen Werten führen, erklärt Politikwissenschaftler Gabriel. Verliert man etwa seinen Arbeitsplatz, nehmen Sicherheit und materielle Werte vielleicht plötzlich wieder einen ganz anderen Stellenwert im Leben ein. Zugleich könnten sich Werte mit zunehmendem Alter zumindest graduell verändern – Stichwort Alterskonservatismus. Aber auch auf gesellschaftlicher Ebene verändern sich Werte. Ein klassisches Beispiel ist der Wertewandel vom Materialismus hin zum Postmaterialismus, der in der Forschung vor allem durch den Politikwissenschaftler Ronald Inglehart beschrieben wurde. Seit den 1970er Jahren zeichnet sich ab, dass traditionelle, materialistische Werte wie wirtschaftliche Stabilität, Sicherheit und Ordnung, Konformität und Disziplin an Bedeutung verlieren. An ihre Stelle treten postmaterialistische Werte wie Selbstverwirklichung, gesellschaftliche und politische Mitbestimmung, eine hohe Bedeutung der individuellen Freizeitgestaltung, aber auch die Erhaltung der menschlichen Lebensgrundlagen, also der Schutz der Umwelt, erklärt Gabriel. „Das sind Prozesse, die seit den 70er-Jahren wissenschaftlich ziemlich gut nachgewiesen sind.” Grund für den Wertewandel sei insbesondere die Verbesserung materieller Lebensgrundlagen, betont Dr. Evelyn Bytzek, Politikwissenschaftlerin an der Universität Koblenz-Landau. Anders ausgedrückt: Postmaterialistische Werte muss man sich leisten können. „Die Praxis zeigt auch, dass in Krisensituationen, insbesondere auch in Wirtschaftskrisen, materialistische Werte wieder stärker werden. Und das könnte jetzt beispielsweise für die Corona-Krise auch der Fall sein”, sagt Evelyn Bytzek. Die Frage sei in diesem Fall allerdings, ob eine solche Veränderung dauerhaft oder vorübergehend sei.

„Die Entwicklungen, die wir momentan durchlaufen, haben eine Dramatik, die auch Gewissheiten in Frage stellt. Und das ist eine Erschütterung bisheriger Wertvorstellungen.“

Prof. Dr. Oscar W. Gabriel, Universität Stuttgart

Grundsätzlich gilt: Einschneidende gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen – Krisen, Kriege, aber auch Prozesse wie die Globalisierung – können unsere Werte nachhaltig verändern. Das betont auch Oscar W. Gabriel: „Die Entwicklungen, die wir momentan durchlaufen, haben eine Dramatik, die auch Gewissheiten in Frage stellt. Und das ist eine Erschütterung bisheriger Wertvorstellungen.” Ein weiteres aktuelles Beispiel: Der Klimawandel. „Die Überschwemmungskatastrophen, die Dürresommer – das sind neue Erfahrungen. Und man kann schon sehr deutlich sehen, dass viele Dinge, die mit einer gesunden Umwelt zu tun haben, in den Vordergrund getreten sind und Dinge wie beispielsweise ökonomisches Wachstum zurückdrängen.“ In Bezug auf die Klimakrise stehen sich allerdings zwei klassisch postmaterialistische Werte gegenüber: Der Umweltschutz und die Selbstverwirklichung. Spannend sei daher, wie sich diese Werte und ihr Verhältnis zueinander entwickeln, sagt Evelyn Bytzek. „Hat der Umweltschutz Priorität? Und bin ich bereit, dafür auch Einschnitte meiner persönlichen Freiheit hinzunehmen?”

Derzeit regt sich in dieser Frage noch viel Widerstand. Auf Twitter und in Talkshows, und vermutlich auch am Familientisch beim Abendessen, wird bisweilen erbittert über Lastenräder, Veggie-Days und Tempolimits gestritten. Und auch in anderen Fragen, sei es das Gendersternchen oder die Vermögenssteuer, stehen verschiedene Gruppen sich unversöhnlich gegenüber. Nimmt die Polarisierung in der Gesellschaft also zu, werden die Gräben zwischen den Vertreter*innen unterschiedlicher Werte tiefer? Politikwissenschaftlerin Bytzek glaubt eher, dass sich die Art, wie wir miteinander sprechen, verändert. Die Vehemenz, mit der Werte verteidigt werden, nehme zu. „Früher wusste man, wer der Feind ist, das hat einen aber nicht davon abgehalten, mit dem Feind zu reden. Und das hat sich stark verändert – und damit hat sich auch die Kommunikation zwischen den Gruppen verändert.“ Ähnliches beobachtet auch Oscar W. Gabriel. Häufig mangele es an Verständnis für Wertvorstellungen, die nicht den eigenen entsprechen. „Dadurch bekommen Wertekonflikte eine viel größere Schärfe.”

Unser Parteiensystem ist stark von Wertekonflikten geprägt. Und was wir jetzt schon mit großer Wahrscheinlichkeit sagen können, ist dass das Parteiensystem nach der nächsten Bundestagswahl noch volatiler, noch stärker zersplittert sein wird.”

Prof. Dr. Oscar W. Gabriel, Universität Stuttgart

Der Konflikt zwischen unterschiedlichen Werten spiegelt sich auch in unserem Parteiensystem wider. „Parteien sind um konkurrierende Wertesysteme hin entstanden”, erklärt Oscar W. Gabriel. So galten CDU und CSU lange Zeit als Parteien der Katholik*innen, die SPD wurde traditionell von Arbeiter*innen gewählt. Doch ganz so leicht ist es heute nicht mehr. Im Zuge des Wertewandels, der Individualisierung und der Pluralisierung der Lebensstile in unserer Gesellschaft werden Parteibindungen schwächer, die Zahl der Wechselwähler*innen nimmt zu. Zugleich sind neue Parteien entstanden. Die Grünen etwa, welche die postmaterialistische Werte – vom Klimaschutz bis zur Selbstentfaltung – wie keine andere Partei verkörpert. Auf der anderen Seite seien rechtspopulistische Parteien wie die AfD als Gegenreaktion auf postmaterialistische und individualistische Werte entstanden, so Gabriel. „Unser Parteiensystem ist stark von Wertekonflikten geprägt. Und was wir jetzt schon mit großer Wahrscheinlichkeit sagen können, ist dass das Parteiensystem nach der nächsten Bundestagswahl noch volatiler, noch stärker zersplittert sein wird, als das in der letzten Legislaturperiode der Fall gewesen ist.”

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