Foto: Universität Wien

„Im Vergleich ist die Situation in Wien weniger dramatisch.“

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Christoph Reinprecht

In deutschen Ballungsräumen steigen die Mieten und es wird schwieriger, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Wie ist die Lage in Österreich?

Zunächst einmal muss man zwischen Wien und dem Rest von Österreich unterscheiden, wenn man einen Vergleich ziehen will. Schließlich ist Wien mit 1,8 Millionen Einwohnern die einzige Großstadt in Österreich, die vergleichbar ist mit Städten wie Hamburg oder Berlin. Hier stellt man ganz ähnliche Phänomene fest wie in deutschen Städten: Die Mietpreise am freien Wohnungsmarkt galoppieren, das heißt sie steigen rasant. Der große Unterschied zu deutschen Städten ist allerdings, dass der Anteil des öffentlich regulierten Wohnungsmarktes sehr groß ist. Fast 50 Prozent des Wohnbestandes sind nicht auf dem freien Markt, sondern entweder gefördert oder sogar im Besitz der Gemeinde Wien. Das ist ein großer Unterschied zu deutschen Städten, wo ab den 1990er Jahren bekanntlich die Bestände verkauft oder von großen Immobilien- und Finanzgesellschaften aufgekauft wurden. Das ist in Wien nicht passiert. Deshalb haben wir hier einen gespaltenen Wohnungsmarkt: Ein Bereich ist relativ stark, der andere weniger stark reguliert. In diesem freien Mietwohnungsmarkt explodieren die Preise.

Wie viele der Wiener Wohnungen gehören denn der Stadt bzw. werden von ihr gefördert?

Ein Viertel des gesamten Wohnungsbestandes in Wien ist der Wiener kommunale Wohnbau oder Gemeindebau. Ein knappes weiteres Viertel ist geförderter Wohnbau, wo klassische Förderungsmaßnahmen greifen, das heißt die Bauten über Wohnbauförderung finanziert wurden. Der Gemeindebau, also der kommunale Wohnbau, ist dadurch charakterisiert, dass er im Eigentum der Gemeinde Wien ist. Das ist öffentlicher Wohnbau, also nicht social housing, sondern public social housing. Die Stadt Wien ist Eigentümer dieser ca. 225.000 Wohnungen. Das ist eine unglaublich große Zahl.

„Im Gegensatz zu vielen deutschen Städten hat Wien am sehr umfangreichen Wohnungsbestand festgehalten. Es gibt eine fast 100-jährige Geschichte des kommunalen Wiener Wohnbaus.“

Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?

Viele dieser Wohnungen sind in der Zwischenkriegszeit gebaut worden. Auf dieses sogenannte Rote Wien geht die Tradition zurück. Ähnliche Entwicklungen gab es in vielen europäischen Städten. Die Kommunen haben damals begonnen, die Wohnungsmisere vor und nach dem Ersten Weltkrieg zu bekämpfen und in großem Umfang Wohnraum zu errichten. Hier war die Stadt Wien also Bauträger und Eigentümer mit einer Finanzierung über Sondersteuern. Das hat sich nach der Unterbrechung des Austrofaschismus und Nationalsozialismus nach 1945 fortgesetzt. Zwei Drittel des sozialen und kommunalen Wohnungsbestandes sind in den 1950er bis 1970er Jahren errichtet worden. Danach aber verflachte diese Entwicklung in den 1980er und 1990er Jahren. Da erlebte Wien eine Phase gewisser Schrumpfung oder Stagnation; es gab strukturell gesehen eine Abwärtstendenz, die sich auch demographisch bemerkbar machte. Seit den 1990er Jahren wächst die Stadt. Aus verschiedenen Gründen, vor allem aber mit dem Beitritt Österreichs zur EU, hat die Stadt Wien entschieden, ab 2004 keine eigene Wohnbautätigkeit mehr zu betreiben. Seitdem tritt sie nicht mehr selbst als Bauträger und Bauherr in Erscheinung. Im Gegensatz zu vielen deutschen Städten hat Wien aber am sehr umfangreichen Wohnungsbestand festgehalten. Es gibt also eine fast 100-jährige Geschichte des kommunalen Wiener Wohnbaus.

Wer profitiert von diesem kommunalen Wohnungsbau?

Es gibt heute drei Säulen als Zugangskriterien zum kommunalen Wohnbau. Zunächst gibt es ein einkommensbezogenes Kriterium, das allerdings so großzügig gestaltet ist, dass 70–80 Prozent der Wiener Bevölkerung einziehen könnten. Sodann müssen Bewerber eine gewisse Sesshaftigkeit in Wien vorweisen – sie müssen zwei Jahre durchgehend in Wien ihren Hauptwohnsitz gehabt haben, um überhaupt einen Zugang zu bekommen. Zusätzlich spielen noch soziale Kriterien eine Rolle. Wenn Bewerber beispielsweise in einer schlechten oder überbelegten Wohnung leben, alleinerziehend sind, die erste Hausstandsgründung anstreben oder aus sonstigen Gründen einen besonderen Wohnbedarf nachweisen, können sie auf der Warteliste vorrücken. Betrachtet man die Gesamtlandschaft, ist der kommunale Wohnbau sicherlich jenes Segment, das am ehesten einkommensschwachen Gruppen offensteht. Hier sind die Eintrittshürden deutlich niedriger als beim geförderten Wohnbau oder natürlich am freien Wohnungsmarkt.

 

Wiens bekanntester Gemeindebau: Der Karl-Marx-Hof (Foto: Bwag/Wikimedia)

 

Wohnen denn hauptsächlich einkommensschwache Haushalte in Gemeindebauten?

Gemessen an ca. einer Million Wohnungen in Wien sind 225.000 Wohnungen in öffentlichem Besitz eine erhebliche Zahl – deshalb ist dieses Segment natürlich extrem heterogen. Es gibt Wohneinheiten, die von der Mittelschicht, und andere, die klassisch von Arbeiterschichten bewohnt sind. Gleichzeitig gibt es aber gerade in den vergangenen Jahren die Tendenz, dass in bestimmten Bereichen dieses großen Segments verstärkt Personengruppen wohnen, die von sozialer Marginalisierung betroffen sind, sei es aufgrund von Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung oder Migration. Grund ist, dass die Stadt hier die Möglichkeit hat, die Zugangsschwelle eher niedrig zu halten und bei der Zuweisung direkt einzugreifen – anders als im privaten Wohnungsmarkt mit seinen extremen Preissteigerungen oder auch im sozial geförderten Markt, wo von den Mietern Eigenmittel in Form von Baukostenzuschüssen aufzubringen sind. So können benachteiligte Personen vergünstigten Zugang erhalten. Das hat dazu geführt, dass in den vergangenen Jahren in den kommunalen Wohnbauten verstärkt jene Bevölkerungsgruppen wohnen, die man gemeinhin als sozial bedürftige Personengruppen ansieht.

Werden weiterhin Wohnungen gebaut, um dem Zuzug nach Wien gerecht zu werden?

Das ist sehr ähnlich wie in Berlin und anderen deutschen Städten. Wien hat eine Nettozuwanderung von etwa 20.000–30.000 Menschen pro Jahr. Gleichzeitig gibt es einen relativ geringen Leerstand. Somit gibt es einen erheblichen Bedarf an Wohnraum, und deshalb wird auch mit Nachdruck gebaut. Die Stadt selbst allerdings baut keine Wohnungen mehr, sie ist nicht mehr Bauträger, sondern finanziert den Wohnungsbau. Aufgrund niedriger Zinsen für Kredite am freien Kapitalmarkt wird aber auch sehr viel frei finanziert gebaut. Die Objektförderung der Stadt, also die Subvention von Neubauten, richtet sich nicht mehr nur an klassische gemeinnützige Bauträger, sondern ist offen für gewinnorientierte Bauträger geworden, solange diese bestimmte Kriterien einhalten. Subjektförderung gibt es hingegen wirklich primär für Armutshaushalte im Sinne einer Wohnbeihilfe. Die Landschaft der Bauträger aber hat sich verändert: Die strenge Trennung in gemeinnützige und gewinnorientierte Bauträger ist durchlässiger geworden. Es gibt Kapitalgesellschaften, die bauen im geförderten Segment, während sich gemeinnützige Gesellschaften für den Markt öffnen. Es verschiebt sich also im Moment sehr viel. Klar ist aber: Die Stadt Wien gibt viel Geld für die Objektförderung aus. Jährlich fließen rund 300 Millionen Euro in den Neubau, weitere 200 Millionen in die Sanierung des Bestands. In Wien ist die Mehrzahl der Neubauwohnungen mithilfe von öffentlichen Geldern mitfinanziert.

„Wien hat eher die Tradition geringer Unterschiede am Wohnungsmarkt. Diese Unterschiede nehmen aber erkennbar zu.“

Wie kann ein so stark subventioniertes System funktionieren?

Das Modell ist relativ simpel, aber es stößt natürlich derzeit auch an Grenzen. Bislang waren die Baukosten und insbesondere die Bodenpreise gedeckelt. Es gab für jeden Quadratmeter, der von einer Baugesellschaft gekauft wurde, um geförderten Wohnbau zu errichten, einen festgelegten Höchstpreis für die Anschaffung des Bodens. Ebenso durften die Baukosten pro Quadratmeter einen bestimmten Betrag nicht überschreiten. Diese Kriterien sollen nach einer neuen Richtlinie fallen. Die Reglementierung erfolgt künftig über den Mietzins, der bei geförderten Objekten einen festgelegten Betrag nicht überschreiten darf. Die Stadt versucht damit, auf das Problem zu reagieren, dass wie in allen Städten, bei denen demographischer Druck herrscht, die Bodenpreise explodieren. Wien hat zwar eine lange Tradition der Bodenakquise durch die Stadt, wo Bauträgern günstiger Boden zur Verfügung gestellt wird. Allerdings sind die Möglichkeiten der Stadt, günstigen Baugrund zu erwerben, derzeit deutlich eingeschränkt. Es gibt eine zunehmend aggressive Vermarktung des Bodens, die dazu führt, dass Stadt und gemeinnützige Bauträger in die Defensive geraten. Es wird schwieriger, Boden zu Preisen zu erwerben, die geförderten Wohnungsbau zulassen. Das ist derzeit die größte Herausforderung. Und das ist auch der Grund, warum der geförderte Neubau in den letzten Jahren bevorzugt in Lagen, oftmals am Stadtrand, stattfindet, die sich ursprünglich im Eigentum öffentlicher Unternehmen befanden, beispielsweise ehemalige Betriebsgelände der Bundesbahn. Diese Grundstücke können günstig akquiriert werden, während in allen anderen Bereichen die Preise in die Höhe schnellen. Deshalb nehmen die Investitionen massiv zu und es gibt zunehmend frei finanzierten Wohnungsbau in höherpreisigen Segmenten. Dieser Wohnraum ist für bedürftige Personengruppen nicht mehr zugänglich. Das ist ein strukturelles Problem, mit dem sehr viele Städte konfrontiert sind.

Schafft Wien es denn trotzdem noch, die Nachfrage an preiswertem Wohnraum zu befriedigen?

Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach mit ja oder nein zu beantworten. Für alle Personengruppen, die neu in den Wohnungsmarkt eintreten, oder die gezwungen sind, sich innerhalb des Marktes zu bewegen, ist es heute auch in Wien deutlich schwieriger geworden, leistbaren Wohnraum zu finden. Trotz aller Bemühungen der Stadt. Es ist sicher so, dass die Tendenz besteht, dass der Bereich des kommunalen Wohnungsbaus jener Sektor wird, der eher den Bedarf der einkommensschwächeren Gruppen abdeckt. Wien hat ja eher die Tradition geringer Unterschiede am Wohnungsmarkt. Diese Unterschiede nehmen aber erkennbar zu, auch zwischen den Segmenten.

Allerdings ist die Situation in Wien im Vergleich zu anderen Städten weniger dramatisch. Ganz einfach aufgrund der Organisation des Wohnungsmarktes. Im Vergleich zu anderen funktioniert es hier also noch relativ gut.

„Insgesamt geht es nicht darum, primär günstigen Wohnraum zu schaffen, der dann für einkommensarme Gruppen reserviert ist, sondern Wohnraum zu schaffen, der in finanzieller Hinsicht zugänglich ist und zugleich Mobilität erlaubt.“

Muss aus ihrer Sicht trotzdem noch eingegriffen werden?

Ja, denn es besteht die große Gefahr einer zunehmenden Polarisierung am Wohnungsmarkt. Man darf auch nicht vergessen, dass Teile der Wohnungssuchenden überhaupt keinen Zugang zu den günstigen Segmenten haben. Und denken Sie auch daran, wo Arbeitskräfte aus dem Ausland oder Studenten in Berlin in den 1960er und 1970er Jahren gewohnt haben: Das war dort, was wir in Wien den gründerzeitlichen Altbestand nennen – unsanierte, dafür aber große und preisgünstige Wohnungen im Stadtkern. Dieses Segment gibt es heute nicht mehr. Das bedeutet, dass einkommensschwache Gruppen nicht mehr in diese Nischen gehen können, sondern sich in einem Wohnungsmarkt bewegen, der für sie weniger Freiraum und Handlungsmöglichkeiten bietet. Verglichen mit anderen Städten ist es in Wien also etwas entspannter, aus der Binnenperspektive gibt es aber eine deutliche Erschwernis und ein gestiegenes Risiko einer Polarisierung. Es besteht das Risiko, dass bestimmte Gruppen auf eine wirklich hohe Barriere stoßen, überhaupt bzw. zu fairen Bedingungen in den Wohnungsmarkt eintreten zu können.

Wie bewerten Sie die derzeitigen Maßnahmen der Wiener Politik?

Es ist nach wie vor beachtlich, was Wien in diesem Zusammenhang leistet. Wünschenswert wäre aber zu forcieren, was in Wien „Gemeindebau Neu“ genannt wird. Das ist günstiger, geförderter Wohnungsbau ohne Eintrittskosten, also ohne Beiträge für die Baukosten bei Bezug der Wohnung. Es gibt Bemühungen, dieses Programm zu starten, aber das läuft sehr zäh an. Eine Forderung wäre zweifellos, diesen Bereich stärker auszubauen. Das heißt, wieder stärker in einem Bereich zu bauen, der für einkommensschwächere Gruppen erschwinglicher ist als andere. Neben den Wohnungskosten besteht die Problematik in der Wohnungsfrage allerdings auch darin, dass Wohnungswechsel mit hohen finanziellen Belastungen verbunden sind, man könnte auch sagen bestraft werden. Der Wohnungsmarkt in Wien steht in einem Spannungsverhältnis zu den allgemein wachsenden Wünschen und Notwendigkeiten nach Veränderung und Mobilität. Dazu trägt auch der kommunale Wohnungsbau selbst bei, der auf Beständigkeit ausgerichtet ist. Das hat sicherlich auch positive Aspekte. Aus dem gesellschaftlichen Wandel entstehen aber andere Anforderungen.

Insgesamt geht es daher nicht darum, primär günstigen Wohnraum zu schaffen, der dann für einkommensarme Gruppen reserviert ist, sondern Wohnraum zu schaffen, der in finanzieller Hinsicht zugänglich ist und zugleich Mobilität erlaubt. Darum geht es bei der ganzen Debatte. Bei der Frage der Wohnmobilität, die mit Veränderungen und Übergängen im Leben verbunden ist, da denkt Wien, wie die österreichische Gesellschaft überhaupt, sehr konservativ. Da müsste man die Politik stärker fordern.

 

Zur Person

Prof. Dr. Christoph Reinprecht ist Soziologe und lehrt an der Universität Wien. Ein Forschungsschwerpunkt ist die Zukunft des sozialen & kommunalen Wohnbaus.

Foto: Universität Wien

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