Da waren’s nur noch 1,2 – Zur Lage des sozialen Wohnungsbaus

In Deutschland gibt es immer weniger Sozialwohnungen. Warum eigentlich?

Hinter dem Lokschuppen des ehemaligen Rangierbahnhofs in Berlin-Pankow erstreckt sich ein weites Feld. Eine Familie Kreuzkröten hat auf dem Gelände an der Granitzstraße ihre Heimat gefunden – Wohnraum für Menschen sucht man hingegen noch vergeblich. Der Grund: Viele Jahre wurde um eine sozialverträgliche Nutzung der Fläche gestritten. Erst im April dieses Jahres unterzeichneten Stadt und Eigentümer eine Einigung. 30 Prozent der rund 2000 geplanten Wohnungen sollen nun Sozialwohnungen werden.

Die Brache ist nur einer von vielen Orten, an dem um sozialen Wohnraum gerungen wird. Wohnungen also, bei denen die Mieten vertraglich gedeckelt sind und die nur von Haushalten mit Wohnberechtigungsschein gemietet werden können. Miet- und Belegungsbindung heißt das im Fachjargon. Zwar gibt es bundesweit noch immer knapp 1,2 Millionen Sozialwohnungen. Allerdings waren es 1990 noch fast drei Millionen, wie eine Aufstellung der Bundesregierung zeigt.

Der Rückgang ist im System begründet. „Das Grundproblem ist die zeitliche Begrenzung der Bindungen“, sagt Dr. Gerd Kuhn vom Institut Wohnen und Entwerfen der Universität Stuttgart. Als Ausgleich für öffentliche Förderung verpflichten sich Investoren, neue Wohnungen über einen festgelegten Zeitraum zu günstigen Preisen an Menschen mit einem Wohnberechtigungsschein zu vermieten. Doch bei vielen der Sozialbauten vergangener Jahrzehnte erlischt nach und nach die rechtlich durchsetzbare Bindung. Jährlich verliert Deutschland so bis zu 50.000 Wohnungen an den freien Markt. Obwohl zuletzt knapp 25.000 neue Sozialwohnungen gebaut wurden, sinkt deshalb der Bestand.

Gleichzeitig steigt die Nachfrage. Um ihr gerecht zu werden, müssten stattdessen rund 80.000 Sozialwohnungen gebaut werden – pro Jahr. Auf diese Zahl kommt das Pestel Institut. Selbst bei konservativeren Zahlen werde derzeit nur ein Bruchteil des Fehlbetrags gedeckt, sagt Tobias Koch vom Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos: „Die Nachfrage übersteigt das Angebot bei weitem. Wir brauchen jährlich mindestens 50.000 neue Wohnungen, nur um den Status quo zu erhalten.“ Wenngleich der soziale Wohnungsneubau insgesamt steigende Zahlen verbuche – noch reichten die Anstrengungen nicht, um den jährlichen Schwund einzudämmen.

„Der Verkauf von ehemals gemeinnützigem Wohnraum war der Kardinalfehler der letzten Jahrzehnte.“

Dr. Gerd Kuhn, Universität Stuttgart

Aus Sicht von Kuhn liegt ein weiteres Problem im Verkauf von Wohnungen aus dem öffentlichen Besitz. Statt den Bestand aufzustocken, verkauften viele Kommunen ab Ende der 1990er Jahre Teile ihrer Wohnungen, um ihre Haushalte zu sanieren. Doch entgegen ihren Prognosen entspannte sich der Wohnungsmarkt nicht. „Dieser Verkauf von ehemals gemeinnützigem Wohnraum war der Kardinalfehler der letzten Jahrzehnte“, sagt Kuhn. Denn die Nachwirkungen der Privatisierung machen sich nun vermehrt bemerkbar. Weil von Investoren gebaute Sozialwohnungen allmählich in den freien Markt entlassen werden, steigt die Nachfrage nach Wohnraum, der nicht dem Profit, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Da zudem teilweise die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften verkauft wurden, fehlen den Kommunen nun wichtige Steuerungsinstrumente.

Eine Herausforderung vor allem für die Ballungsräume. In Berlin, wo nach Schätzungen 35 bis 50 Prozent der Haushalte Anspruch auf eine Sozialwohnung hätten, sind die Reserven an preiswertem Wohnraum aufgezehrt – kaum mehr als 100.000 Wohneinheiten mit Preisdeckelung kann die Stadt anbieten. Ein Anteil von gerade mal sechs Prozent am Mietwohnungsbestand, wie das Pestel Institut errechnet. Konsequenz für Tobias Koch: „In den aufstrebenden Ballungsräumen haben wir eine Engpasssituation. Man hat den Bedarf an Wohnungen für mittlere und niedrige Einkommensbezieher unterschätzt.“ Durch den überproportionalen Zuzug in die Groß- und Universitätsstädte steigen die Kosten für Miete und Bauland. Die Folge: Selbst Menschen mit Wohnberechtigungsschein können nicht immer mit einer Sozialwohnung versorgt werden.

 

 

Dass es anders gehen kann, zeigt das Beispiel Wien. Im Gegensatz zu deutschen Metropolregionen hat Österreichs Hauptstadt konsequent an ihrer kommunalen Wohnungsgesellschaft festgehalten. Aufgrund des großen Wohnungsbestandes, den die Stadt dem Markt auf Dauer entzieht, kann sie fast die Hälfte aller Wohnungen zu regulierten Preisen anbieten. „Im Vergleich zu anderen Städten ist die Situation in Wien deshalb weniger dramatisch“, sagt Prof. Dr. Christoph Reinprecht von der Universität Wien.

In Deutschland hingegen sucht man weiterhin nach Auswegen aus dem Dilemma. Zwar argumentiert die Bundesregierung, ein Teil der Haushalte sei über den freien Markt bereits preisgünstig mit Wohnraum versorgt. Doch hat sie den sozialen Wohnungsbau mittlerweile wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Im Rahmen ihrer „Wohnraumoffensive“ plant die Koalition konkrete Schritte. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) will mit einer Grundgesetzänderung dafür sorgen, dass der Bund den sozialen Wohnungsbau künftig wieder direkt bezuschussen kann. Seit dieser durch die Föderalismusreform 2006 Sache der Länder wurde, war das nur noch übergangsweise und indirekt möglich. Vereinzelt wurden die Mittel lieber zur Entschuldung verwendet. Stattdessen will die Regierung nun wieder langfristig und zweckgebunden finanzieren – insgesamt zwei Milliarden Euro verspricht der Koalitionsvertrag für die Jahre 2020 und 2021.

„Es braucht die Hilfe des privaten Immobilienmarktes. Investoren könnten in den angespannten Ballungsräumen über Quoten verpflichtet werden, Teile des Neubaus für den sozialen Wohnungsbau zu reservieren.”

Tobias Koch, Prognos AG

Zu wenig, sagt Dr. Gerd Kuhn: „Angesichts der auslaufenden Preisbindung und des akuten Wohnraummangels reicht diese Summe nicht zur Entspannung. Deshalb muss die Bundesregierung deutlich stärker in den Bau von neuem Sozialwohnraum investieren.” Andernfalls drohe sich die Lage in den Ballungsgebieten weiter zuzuspitzen.

Doch alleine können Bund und Länder den Schwund an mietpreisgebundenem Wohnraum möglicherweise kaum verhindern. Zu teuer das Bauland, zu teuer der Bau. „Es braucht die Hilfe des privaten Immobilienmarktes“, sagt Koch. Er schlägt Hybridlösungen vor: „Investoren könnten in den angespannten Ballungsräumen über Quoten verpflichtet werden, Teile des Neubaus für den sozialen Wohnungsbau zu reservieren.”

Die Koalition verfolgt indes behutsamere Pläne: Bauherren, die bezahlbaren Wohnraum schaffen, sollen zumindest in Gebieten mit erheblichem Wohnungsmangel steuerliche Investitionsanreize erhalten. Diskutiert wird hauptsächlich eine befristete Sonder-Abschreibung, mit der Investoren künftig zusätzlich fünf Prozent ihrer Investitionssumme geltend machen könnten. Mit der Maßnahme erhofft sich die Regierung einen Ausgleich für die mangelnde Renditeaussicht, die Investoren vom sozialen Wohnungsbau abschreckt.

„Wohnungen sind Wirtschafts- und Sozialgut. Wenn das Gewicht zu sehr auf Profit liegt, muss die öffentliche Hand regulativ eingreifen.“

Dr. Gerd Kuhn, Universität Stuttgart

Die Wissenschaft ist uneins über solche Anreize für Investoren. Während das Pestel Institut finanzielle Zuschüsse für die Bauwirtschaft befürwortet, empfiehlt Kuhn einen anderen Weg: „Bei der Planung neuer Quartiere darf Bauland nicht mehr nach dem Höchstgebotverfahren vergeben werden. Stattdessen muss Konzeptqualität verlangt werden.” Derjenige solle den Zuschlag bekommen, der am meisten für das Gemeinwohl macht. Durch eine Konkurrenz der besten Ideen könnten private Akteure wieder in die soziale Pflicht genommen werden. „Wohnungen sind Wirtschafts- und Sozialgut. Wenn das Gewicht zu sehr auf Profit liegt, muss die öffentliche Hand regulativ eingreifen.“

Dabei müsse der Schwerpunkt allerdings nicht immer auf dem Neubau liegen, sagt Koch. Eine weitere Möglichkeit sei stattdessen der Erwerb von Belegungsrechten. „Der Wohnungsneubau ist weiterhin ein teures Instrument. Günstiger wäre es, soziale Bindungen für Bestandswohnungen zu kaufen.” Die Idee: Statt allein in den Neubau zu investieren, könnten Belegungs- und Mietbindungen auf Ersatzwohnungen übertragen und so bereits bestehende Wohnungen in Sozialwohnungen umgewandelt werden. Neben notwendigen Baumaßnahmen sei dies ein zusätzliches Instrument für mehr sozialen Wohnraum.

Ungeachtet der verschiedenen Ansätze benötigt man den Experten zufolge aber vor allem Kontinuität und Stabilität. Eine Lösung zu finden, ist dabei nicht nur aus Gründen der Wirtschaftlichkeit wichtig. „Es ist auch ein Thema des sozialen Friedens. Schauen Sie nach Tel Aviv, nach London, ins Silicon Valley. Selbst für die Mitte der Gesellschaft ist es dort kaum noch möglich, in bestimmten Gegenden zu wohnen”, sagt Koch. „Dieses Bild sollte uns disziplinieren. Wohnraum muss breiten Schichten der Bevölkerung zugänglich sein. Der direkteste Weg ist eine Renaissance des sozialen Wohnungsbaus.“

 

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