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„Die langfristigen geopolitischen Folgen werden nicht berücksichtigt.“

Ein Gespräch mit Dr. Jacopo Maria Pepe

Der Krieg in der Ukraine macht die Verflechtungen zwischen Energiepolitik, Außenpolitik und Sicherheitspolitik schlagartig für alle sichtbar. Warum hat die Politik so lange gebraucht, um sich die außenpolitische Dimension ihrer Energiepolitik klar zu machen? 

Das größte Problem der Energie- und Außenpolitik der letzten zwanzig Jahre ist mit Blick auf Russland ein ungelöstes strategisches Dilemma: Wollen wir mit Russland in der Energiepolitik eine umfassende Partnerschaft anstreben, ohne dass sich das Land nach unseren Wertvorstellungen ändern lässt? Oder müssen wir die Beziehungen zu Russland auf ein Mindestmaß reduzieren, weil Russland sich offensichtlich nicht ändert, sondern gegenteilig entwickelt? In der Vergangenheit hat man auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten gefunden, sondern hat versucht ein wenig von beidem zu machen. Das zeigte zum Beispiel der Bau von Nordstream 2. Hier wurden die wirtschaftlichen Beziehungen noch einmal gestärkt, aber gleichzeitig wurde Russland auf politischer Ebene sanktioniert. Ganz nach dem alten Motto “Wandel durch Handel”. Entscheidender wäre aber gewesen das politische Dilemma für sich früher zu klären – also wie man mit Russland umgeht, wenn Wandel durch Handel nicht funktioniert. 

Hätte Deutschland also deutlich früher die Gefahren einer starken Abhängigkeit erkennen und angehen können?

Fairerweise gab es lange zu der großen Abhängigkeit von Russland keine echte Alternative: Die Kosten für erneuerbare Energien sind erst in den 2010er Jahren signifikant und rapide gesunken und LNG war damals auch noch keine Alternative. Gaslieferungen aus Russland waren stabil und relativ günstig. Und zudem war Deutschland auch eine Gas-Drehscheibe geworden für Mittel- und Nordwesteuropa. Es gab also viele ökonomische Gründe die Abhängigkeit zu erhalten.

„Aus politischen Gründen wäre ein sofortiger und umfassender Lieferstopp nicht sinnvoll. Besser wäre es, mit Kohle und Öl anzufangen, weil die leichter zu ersetzen sind. Bei Gas müsste ein Embargo langfristig geplant werden.“

Wie bewerten Sie nun die aktuelle Diskussion um ein Embargo russischer Energieimporte aus geopolitischer Sicht?

Natürlich ist die Diskussion aus geopolitischer und aus moralischer Sicht absolut berechtigt. Kurzfristig ist aber ein Embargo der Energielieferungen aus Russland nicht möglich – aus wirtschaftlichen und aus politischen Gründen: Ein unvorbereiteter Stop würde unsere Industrie und die einzelnen Haushalte hart treffen und zahlreiche Arbeitsplätze kosten.

Das könnte unseren geopolitischen Verhandlungsspielraum gegenüber Russland schwächen, denn für Russland ergibt sich die Verhandlungsmacht aus Wohlstand und einer starken Wirtschaft. Wir könnten Gefahr laufen, dass Russland nicht mehr mit uns verhandelt – sondern über unseren Kopf hinweg mit den USA. Wir müssen für den europäischen Raum aber weiterhin die bleiben, die mitentscheiden. Eine Destabilisierung des deutschen Wirtschaftsstandortes hätte auch erhebliche Folgen für die Nachbarländer wie Italien und die Niederlande. Denn Deutschland dient als Wohlstandsmultiplikator. Deswegen wäre auch aus politischen Gründen ein sofortiger und umfassender Lieferstopp nicht sinnvoll. Besser wäre es, mit Kohle und Öl anzufangen, weil die leichter zu ersetzen sind. Bei Gas müsste ein Embargo langfristig geplant werden.

Die Vorbereitungen auf einen möglichen Lieferstopp laufen ja schon: Robert Habeck war kürzlich in Katar, um dort über Lieferungen von Flüssiggas zu verhandeln. Welche geopolitischen Verschiebungen würde das mit sich bringen?

Erstmal muss Flüssiggas überhaupt in nennenswerten Mengen zum Export vorhanden sein. Das könnte noch drei Jahre dauern, denn aktuell sind keine zusätzlichen Volumen da. Wenn es dann aber so weit ist, ist das eine enorme geopolitische Umstellung für Deutschland: Historisch sind die Golf-Staaten keine Region zu der Deutschland enge politische Beziehungen gepflegt hat. Das heißt, wir müssten mehr diplomatische Bemühungen in die Stabilität dieser Region investieren. Außerdem sind wir dann zunehmend vom maritimen Güterhandel abhängig. Wir werden aber keinen direkten Zugang zu den offenen Meeren haben und brauchen eine Infrastruktur, die uns beliefert. Es wäre also eine komplett neue Geoökonomie, die viele geopolitische Fragen aufwirft.

Nun hat die EU vor einigen Tagen einen gemeinsamen Einkauf von Gas und Flüssiggas beschlossen. Welche Vorteile und Herausforderungen kann ein europäisches Vorgehen mit sich bringen?

Die Vorteile liegen auf der Hand: Die EU kann gemeinsam viel besser verhandeln und dadurch auch etwas einsparen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt sind mir noch zu viele Fragen offen, um das einschätzen zu können: Wer soll einkaufen – die Kommission oder mithilfe von EU-Bonds? Oder werden das private Unternehmen sein? Wie würden die Preisverhandlungen aussehen? Wie werden die Mengen unter den Ländern verteilt und mit welchem Schlüssel? Ich habe den Eindruck, dass die Diskussion bisher noch zu oberflächlich bleibt.

„Die Frage ist: Wie können wir in Zukunft Partnerschaften zu Ländern pflegen, die vielleicht andere Prioritäten und Interessen haben? Da werden wir Kompromisse eingehen müssen.“

Auch zukünftig wird Deutschland bei der Energiewende auf die Zusammenarbeit mit anderen Ländern angewiesen sein. Worauf sollte die Politik achten, wenn sie neue Abhängigkeiten eingeht?

Hier kommt es auf die Art der Abhängigkeit an, denn Importabhängigkeit und Technologieabhängigkeit sind zwei unterschiedliche Aspekte. Reine Importabhängigkeiten können wir durch den Ausbau der erneuerbaren Energien leichter reduzieren. Sie werden in dem zukünftigen, dezentralen Energiesystem diffuser und weniger einseitig werden. Hier sollten wir über die Erzeugung, den Transport und die Infrastruktur eine Balance zwischen dem Export und dem Energiebedarf vor Ort in den exportierenden Ländern absichern. Wir werden vor allem mit Schwellenländern, wie Marokko, in Partnerschaft treten. Denen geht es aber häufig in erster Linie um die Versorgung der Bevölkerung und nur zweitrangig um Klimapolitik. Wir müssen uns darum bemühen, deren Interessen zu berücksichtigen und sie beim Klimaschutz mitzunehmen.

Und wie steht es um die Technologieabhängigkeit? 

Die Technologieabhängigkeit ist subtiler, aber geopolitisch bedeutender: Eine neue Energiewelt ist nur mit sogenannten technologieintensiven Gütern möglich. Dahinter liegen lange Wertschöpfungsketten von der Gewinnung der Rohstoffe, über die Veredelung bis zum Bau. Deutschland sollte mit Blick auf den Klimaschutz die gesamte Kette im Blick haben und technologische Standards setzen. Gleichzeitig stehen wir hier aber in einem technologischen Wettbewerb mit Ländern wie China oder den USA. Die Frage ist: Wie können wir in Zukunft Partnerschaften zu Ländern pflegen, die vielleicht andere Prioritäten und Interessen haben? Da werden wir Kompromisse eingehen müssen.

„Im Stromsektor wird es leichter sein, Klimapolitik und Versorgungssicherheit unter einen Hut zu kriegen. Schwieriger wird es in der Industrie, im Wärmesektor oder im Transport.“

Ein Problem der Energietransformation ist ein zukünftiges Abwägen zwischen einer ambitionierten Klimapolitik und energetischer Versorgungssicherheit. Wie lässt sich langfristig beides zusammen denken?

In Zukunft lässt sich das in einer idealen Welt durch erneuerbare Energien und genug grünen Wasserstoff wunderbar zusammen denken. Der Weg dorthin ist aber steinig und voller Widersprüche – und er wird durch den Krieg teilweise noch verschärft: Wir beschließen heute zum Beispiel den Bau von LNG-Terminals oder die Verlängerung der Laufzeit von Kohlekraftwerken. Das sorgt natürlich kurzfristig für eine Verfehlen der Klimaziele. Im Stromsektor wird es leichter sein, Klimapolitik und Versorgungssicherheit unter einen Hut zu kriegen. Schwieriger wird es in der Industrie, im Wärmesektor oder im Transport. Hier werden wir vielleicht länger auf Gas oder auf Kohle angewiesen bleiben. Bei allen Maßnahmen, die wir jetzt planen, sollten wir aber den Klimaschutz mitdenken: Wir können etwa heute die Infrastruktur so bauen, dass wir in Zukunft das Gas-Pipeline-Netz auf Wasserstoff umstellen könnten.

China käme als Abnehmer von russischem Gas ebenfalls in Betracht, wenn die EU sich von russischem Gas abwendet. Dies könnte wiederum die Beziehungen beider Länder stärken. Was würde das für die EU politisch und geostrategisch bedeuten?

China könnte von günstigeren Öl- und Gaslieferungen aus Russland profitieren. Durch den geplanten Kohleausstieg in China werden sie ohnehin in Zukunft vermehrt auf Gas angewiesen sein. Gleichzeitig könnte China weiterhin die Führerschaft in den erneuerbaren Energien ausbauen. Durch diese Marktmacht könnte auch etwa die chinesische Währung, der Yuan, schneller internationalisiert werden. Das alles würde die Spaltung zwischen Ost und West verstärken.

Mit Blick auf den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskurs zu Energiesicherheit: Welcher Aspekt findet Ihrer Meinung nach zu wenig Beachtung?

Für mich werden die mittel- bis langfristigen geopolitischen und sozialen Folgen unseres aktuellen Handelns in der aktuellen Diskussion oft nicht zu Ende gedacht. Wir sollten die Chancen und die Risiken eines Embargos klar kommunizieren – dann würde die Bevölkerung die Maßnahmen, die daraus folgen, vielleicht auch langfristig akzeptieren. Rein mathematisch mögen die Rechnungen der Ökonomen stimmen, die sagen, dass es möglich ist sofort aus russischem Gas auszusteigen – die langfristigen geopolitischen Folgen werden dabei aber nicht berücksichtigt.

 

Zur Person

Dr. Jacobo Maria Pepe ist bei der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin (SWP) für das Deutsche Institut für Internationale Politik und Sicherheit tätig. Er arbeitet als Wissenschaftler in der Forschungsgruppe „Globale Fragen“.

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