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Bewältigungsstrategien: Damit die Angst nicht die Seele auffrisst

Angst in Zeiten des Corona-Virus

Geschlossene Schulen und Kindergärten, Homeoffice und eine weitgehende Kontaktsperre – so rasant wie sich das Corona-Virus weltweit verbreitet, so rasant sind auch die Veränderungen, die die Pandemie weltweit im Leben der Menschen verursacht. Veränderungen, die bei vielen Menschen vor allem eins auslösen: Angst.

„Wir befinden uns derzeit in einer Ausnahmesituation, die für viele Menschen bewegend ist, weil sie noch keine großen Krisen erlebt haben. Das verursacht enormen Stress und Unsicherheit in der Bevölkerung”, sagt Dr. Donya Gilan, wissenschaftliche Leiterin des Bereichs „Resilienz und Gesellschaft“ am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz. Eine Unsicherheit, die dem menschlichen Streben nach Ordnung, Kontrolle und Verlässlichkeit widerstrebt und durch ständig neue, auch widersprüchliche Informationen über die Krise, Stigmatisierung und finanziellen Sorgen befeuert wird. „Das dominierende Gefühl in dieser Situation ist Angst. Hinzu kommen dann mangelndes Vermögen, Unsicherheiten auszuhalten und existentielle Sorgen, die die Angst weiter verstärken”, sagt die Psychologin Gilan. Dabei wirkt sich die Situation individuell unterschiedlich auf das Stressempfinden aus. Eine alleinerziehende Frau mit zwei Kindern wird andere Lasten zu tragen haben, als eine wohlsituierte Managerin, die im Homeoffice arbeitet. Dieser Anspannungszustand erzeugt Stresshormone, die langfristig Herz-Kreislauf- und auch stressinduzierte Erkrankungen wie etwa eine Depression begünstigen.

„Erfahrungen aus der Vergangenheit können uns bei der Bewältigung von Krisen helfen.“

Dr. Donya Gilan, Leibniz-Institut für Resilienzforschung

Europa hat keine Blaupause für gesellschaftsbedrohende Epidemien

Auch individuelle und gesellschaftliche Vorerfahrungen spielen eine Rolle dabei, wie sich die Angst auf unser Verhalten auswirkt und wie wir ihr begegnen: „Wir sind als Individuen nie unabhängig von den kulturellen, sozialen und politischen Begebenheiten in unserer Umgebung und Historie,” sagt Prof. Dr. Hansjörg Dilger, Geschäftsführender Direktor am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität Berlin. Für den Ethnologen ist das der Grund, weshalb verschiedene Gesellschaften unterschiedlich auf die aktuelle Krisensituation reagieren. Menschen, die in Regionen leben, die bereits Erfahrungen mit ähnlichen Krisensituationen haben, wie eben China oder auch Südafrika, sind tendenziell eher bereit, sich schnell auf Sicherheits- und Schutzmaßnahmen einzustellen.

Ganz anders in Europa: „Wir haben in der jüngeren Vergangenheit keine vergleichbaren Erfahrungen mit gesellschaftsbedrohenden Epidemien gemacht. Es gibt deshalb keine Blaupause, an der sich die Menschen orientieren können”, sagt Dilger. Diese Einschätzung teilt Donya Gilan: „Erfahrungen aus der Vergangenheit können uns bei der Bewältigung von Krisen helfen. In unserem Kulturkreis fehlen diese Erfahrungen weitestgehend im kollektiven Gedächtnis. Das ist einer der Gründe, weshalb wir uns so schwer damit tun. Wir können auf keine bewährten Erfahrungen zurückgreifen. Erfahrungen sind jedoch die Grundlage unseres Handelns, Denkens und Fühlens.“

Doch die Lage scheint nicht jeden zu verängstigen. Immer wieder gibt es Berichte über Menschen, die die Anweisungen und Empfehlungen der Behörden ignorieren oder zumindest stark hinterfragen. „Das ist eine Vermeidungsstrategie, um Angst zu reduzieren und Sicherheit zu erlangen”, sagt Gilan: „Solche Anpassungsstrategien wirken nur kurzfristig und verstärken die Angst, da eine Auseinandersetzung mit dem angsterzeigenden Thema fehlt.”

 

Verschwörungstheorien als Mittel der Stressbewältigung

Im Extremfall kann das, so Gilan weiter, aber kippen und zur Verharmlosung führen. Diese Vermeidungsstrategie kann für den einzelnen zwar kurzfristig wirken. Aus gesellschaftlicher Perspektive dürfte sie aber schädlich sein, weil unter Umständen Vorsichtsmaßnahmen und Schutzvorkehrungen missachtet werden. Auch die Flucht in Verschwörungstheorien gehört aus Sicht der Experten zu dieser Art von dysfunktionaler Stressbewältigung. „Verschwörungstheorien liefern eine Sinnerzählung: Sie geben der Krankheit eine tiefere Bedeutung, die viele Menschen suchen, die wissenschaftliche Fakten allein aber nicht liefern”, sagt Hansjörg Dilger.

Ob und wie stark das Angstempfinden der Menschen ausgeprägt ist, ist sehr individuell und hängt neben den genetischen Prägungen zu einem sehr großen Teil vom jeweiligen Kontext ab. „Dazu zählen etwa die finanziellen Umstände eines Menschen, das Ausmaß an sozialer Unterstützung, das erfahren wird, die Qualität der Informationen und Aufklärung, das Bildungsniveau”, sagt Gilan.

Die aktuelle Lage sieht die Resilienzforscherin als Ausnahmesituation und große Herausforderung insbesondere – aber nicht nur – für Menschen, die bereits mit psychische Vorerkrankungen zu kämpfen haben. „Wenn die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus lange bestehen bleiben, dürfte dies zu einer Verstärkung psychischer Erkrankungen führen. Je nachdem wie lange die Krise dauert, kann es auch zu langfristigen Verhaltensänderungen auf Individualebene kommen”, sagt die Psychologin. Wie drastisch die Auswirkungen sind, hänge aber stark vom Individuum ab, so Gilan: „Die Menschen können unterschiedlich lange mit einer solchen Ausnahmesituation umgehen.“

„Durch Angst kann Solidarisierung entstehen.”

Prof. Dr. Hansjörg Dilger, Freie Universität Berlin

Wir sind nicht machtlos unseren Ängsten ausgesetzt

Machtlos ausgeliefert ist man seinen Ängsten allerdings nicht. „Menschen können sich anpassen, indem sie Strategien entwickeln mit veränderten Situationen umzugehen. Wichtig sei es eine annehmende Haltung zu entwickeln, um sein Leben an die aktuellen Umstände zu adaptieren. Man muss jetzt flexibel im Denken und Handeln sein und alte Routinen aufbrechen, neue erfinden”, sagt. Gulian.

Eine besondere Bedeutung beim erfolgreichen Umgang mit Krisen schreibt Hansjörg Dilger den Autoritäten des Landes zu: „Wenn das Gefühl besteht, dass die Politik mit Plan handelt und uns Schutz bietet, dann entsteht Vertrauen”, sagt er und sieht auch die Medien in der Verantwortung. Sie müssten mit besonnener und sachlicher Berichterstattung dazu beitragen, dass die Angst nicht noch zusätzlich geschürt wird. Steigt die Angst weiter, egal ob durch die Medien, schlechte Kommunikation von politischer Seite oder auch eine tatsächliche weitere Verschärfung der Lage, dann könnte das dramatische Folgen haben: „Aktuell sieht man, dass bestimmte moralische Verbindlichkeiten und ethische Werte teils wegfallen. Hamsterkäufe oder das Stehlen von Desinfektionsmitteln sind zwei Beispiele dafür, wie sonst gültige Normen in Frage gestellt oder sogar außer Kraft gesetzt werden”, sagt Dilger.

 

Die positiven Folgen der Krise

Allerdings glauben sowohl der Ethnologe Dilger als auch die Psychologin Gilan, dass die Krise sich auch positiv auswirken kann, wenn der richtige Umgang mit ihr gewählt wird. „Durch Angst kann Solidarisierung entstehen”, sagt Dilger. „Sobald wir merken, dass wir uns selbst und unser direktes Umfeld schützen können, solidarisieren wir uns auch mit anderen, die dem Krankheitsrisiko stärker ausgesetzt sind. Das sehen wir bei allen negativen Seiten derzeit ebenfalls – sowohl innergesellschaftlich als auch im Ansatz über Ländergrenzen hinweg. Hier wirkt Angst quasi als verbindendes Element.”

Donya Gilan bezeichnet die Auswirkungen der Pandemie als ein exzeptionelles Experiment. Millionen Menschen versuchen sich in neuen Lebensstrategien, organisieren ihren Alltag neu: „Dieser disruptive Prozess, wird hoffentlich genutzt, um daraus langfristige Verhaltensänderungen für ein gesünderes Leben zu generieren.“

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