„Wir haben ein Problem mit unserer politischen Streitkultur” stellte Bundespräsident Steinmeier bereits 2019 in einer Rede fest. Seither äußert Steinmeier regelmäßig seine Sorge vor einer Verrohung der Debattenkultur und ist damit nicht alleine. Zumindest gefühlt scheint sich also etwas in der deutschen Debattenkultur gewandelt zu haben.
Auch die Forschung beschäftigt sich damit, ob und inwiefern sich die Debattenkultur in den letzten Jahren verändert hat – und zwar im Kleinen, wie im Großen. „Das Spektrum reicht vom häuslichen Küchentisch bis zur global geführten Debatte. Was wir beobachten ist, dass politische Diskussionen mehr und mehr grenzüberschreitend geführt werden und sich globalisieren“, sagt der Kommunikations- und Medienwissenschaftler Prof. Dr. Gerhard Vowe, der an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf lehrt und forscht. Das zeige sich laut Vowe auch am Beispiel der Corona-Pandemie, einer globalen Krise, die eine globale Debatte mit sich bringt. „Natürlich bleiben nationale oder auch regionale Einfärbungen bestehen, aber das Blickspektrum hat sich für den Einzelnen vergrößert, grenzüberschreitende Erfahrungen von Anderen werden miteinbezogen”, sagt Vowe.
Darüber hinaus hat das Internet neue Debattenräume, also neue Foren von Öffentlichkeit, eröffnet und damit den Diskurs verändert. Neben den klassischen Massenmedien wie Zeitungen, dem Fernsehen und dem Radio oder auch den traditionellen politischen Versammlungen, also den etablierten und institutionalisierten Foren des Meinungsaustausches, bieten in der heutigen Zeit auch die Sozialen Netzwerke neue Räume für Debatten. „Hier kommt es zu Wechselwirkungen zwischen den Debatten in den Massenmedien, in Versammlungen und in den Sozialen Netzen”, sagt Prof. Dr. Barbara Pfetsch. Sie ist Professorin für Kommunikationswissenschaft, Kommunikationstheorie und Medienwirkungsforschung an der Freien Universität Berlin. „In den letzten Jahren werden neue Formen und neue Tonlagen in der Debatte gehört. Es gibt mehr emotionale Sprache, mehr emotionale Ausdrücke aber auch mehr hasserfüllte Ausdrücke.“ Durch die Entgrenzung des öffentlichen Debattenraumes sei es viel schwerer Hassrede oder auch beispielsweise antisemitische Beiträge zu kontrollieren. „Ansichten, die vor wenigen Jahrzehnten in öffentlichen Debatten absolut tabu waren, werden nun als ‚Meinungen‘ vertreten und finden Aufgrund der Reichweite des Internets Hörer*innen und Leser*innen.”