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„Europa kann sich leisten, Getreide nach Afrika zu exportieren“

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Tobias Heidland

Klimawandel, Coronapandemie, Krieg in der Ukraine, der Kornkammer der Welt: Die Lage von Millionen Menschen, die weltweit von Hunger bedroht sind, verschärft sich zurzeit auf dramatische Weise. Mit welchen Migrationsbewegungen rechnen Sie infolge der aktuellen Entwicklung, Prof. Heidland?

Arme Menschen, die Hunger leiden, haben meist gar nicht die Mittel, um international zu migrieren. Viele Haushalte in ärmeren Ländern haben wegen klimawandelbedingter Dürren und während der Lockdowns in der Pandemie ihr Einkommen verloren und ihre Ersparnisse aufgebraucht. Die aktuelle Lebensmittelpreisinflation führt nun dazu, dass sie sich ganze Mahlzeiten nicht mehr leisten können. Doch ich rechne akut mit weniger Migration als man erstmal annehmen könnte. Das wird leider auch dazu führen, dass die Krisen ein stückweit unsichtbar bleiben. Sie werden sich in den Slums und den Armenvierteln von afrikanischen Großstädten abspielen. Und auch in kleineren Städten, aus denen westliche Medien noch seltener berichten.

Wie lautet Ihre längerfristige Prognose?

Das kommt darauf an, wie es mit der politischen Stabilität in den einzelnen Ländern weitergeht. Von der letzten großen Lebensmittelpreiskrise vor gut zehn Jahren wissen wir: Es kann zu Protesten kommen, die gewaltsam niedergeschlagen werden. Einige Regime könnten gestürzt werden. Es kann zu bewaffneten Konflikten kommen, die dann mehr Fluchtmigration zur Folge haben.

National oder international?

In erster Linie und zunächst einmal sicherlich innerhalb der Region. Auch im Falle von Syrien haben wir gesehen: Die Unzufriedenheit über hohe Lebensmittelpreise hat dazu beigetragen, dass dort protestiert wurde, Aufstände wurden gewaltsam niedergeschlagen, es kam zur Revolte, dann zur Revolution. Die Menschen sind erstmal innerhalb der Region geflohen und migriert. Die Migrationsbewegungen nach Europa setzten zwei, zweieinhalb Jahre später ein. Dem Welternährungsprogramm waren damals die Mittel ausgegangen, um die Menschen vor Ort zu ernähren.

„Infolge der Ukrainekrise ist mit Verzögerung mit einer Migrationsbewegung aus afrikanischen Ländern nach Europa zu rechnen. Es hängt davon ab, wie wir jetzt politisch handeln.“

Hunger war der Auslöser für die Fluchtbewegungen aus Syrien nach Europa?

Zumindest ein Auslöser. Das Welternährungsprogramm wurde gerade auch vom Westen nicht ausreichend finanziert. Es mussten Kalorienzahlen pro Person reduziert werden und der Hunger war einer der Auslöser dafür, dass aus Syrien in andere Länder der Region geflüchtete Menschen sich aus dem Libanon, Jordanien und der Türkei insbesondere nach Westen aufgemacht haben. Erst damit kam in Gang, was wir in Europa als die Flüchtlingskrise 2015 wahrgenommen haben. Das heißt: Infolge der Ukrainekrise ist mit Verzögerung mit einer Migrationsbewegung aus afrikanischen Ländern nach Europa zu rechnen.

Sie gehen davon aus, dass der Ukrainekrieg in zwei, drei Jahren sichtbar wird in solchen Migrationsbewegungen?

Es hängt davon ab, wie wir jetzt politisch handeln. Wir haben es für mehrere Millionen Ukrainer sehr vereinfacht, sich frei in Europa zu bewegen, es gibt keine Asylverfahren. Je nachdem, wie sich der Konflikt entwickelt, ob beispielsweise Moldau oder weitere Länder destabilisiert werden, könnten viele weitere Millionen Menschen fliehen müssen. Ich könnte mir vorstellen, dass Europa sich dann unter der Belastung erst recht gegen weitere Fluchtmigration aus anderen Teilen der Welt abschottet und es zu einer Verschärfung an den Außengrenzen kommen wird gegenüber Nicht-Ukrainern.

„Hunger, die Destabilisierung von nordafrikanischen und Sahelstaaten und mögliche Fluchtbewegungen sind in jedem Fall ein Druckmittel und Teil einer geopolitischen Strategie Russlands.“

Ist es das, was Putin intendiert? Wird der Hunger zur Waffe?

Hunger, die Destabilisierung von nordafrikanischen und Sahelstaaten und mögliche Fluchtbewegungen sind – zusätzlich zur Energieunsicherheit – in jedem Fall ein Druckmittel. Auch die mutmaßlich von Russland gesteuerten militärischen Eingriffe beispielsweise in Mali oder der Zentralafrikanischen Republik, wo die Gruppe Wagner agiert, sind Teil dieser geopolitischen Strategie Russlands.

Was kann Europa tun?

Es wird sehr interessant zu sehen, wie sich die Mitgliedstaaten der EU positionieren. Gibt’s da Geschlossenheit bei der weiterhin bestehenden Möglichkeit, in der EU Asyl zu erhalten? Oder wird das Mittelmeer noch weiter abgeschottet, weil die Einstellung vorherrscht, dass wir unseren Teil für den weltweiten Flüchtlingsschutz mit den Ukrainern getan hätten? Eine klare Prognose dazu ist nicht möglich. Aber die Gefahr ist sicherlich da, dass Europa sich auf den Schutz ukrainischer Flüchtlinge konzentriert und sich aus dem Schutz anderer Hilfesuchender herauszieht.

Was ist erforderlich, um Hunger und Leid jetzt sofort einzubremsen?

Was wir unbedingt vermeiden sollten: Getreideexporte aus Europa nach Afrika zu stoppen – wie Ungarn das tut. Oder Handelshemmnisse aufbauen, die es hiesigen Produzenten erschweren, in bedürftige Länder zu exportieren. Europa kann sich leisten, nach Afrika zu exportieren. Kreative Lösungen, wie Exporte des ukrainischen Getreides über die Bahn in die EU und von dort auf die Schiffe, können einen Teil der Folgen des russischen Krieges abmildern. Daher ist sehr zu begrüßen, dass sich die G7 jetzt auf ein Bündnis für globale Ernährungssicherheit geeinigt haben und sich hier engagieren wollen.

 

Zur Person

Prof. Dr. Tobias Heidland ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Leiter des Forschungszentrums Internationale Entwicklung im Kiel Institut für Weltwirtschaft. Er forscht zu globalen Aspekten wirtschaftlicher Entwicklung und legt dabei Schwerpunkte auf Migration und Kapitalströme in Entwicklungsländern, insbesondere Afrika.

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